Jung genug zu sterben

Sie haben ihre Patientendatei durchgesehen und die Verbindung nach Berlin entdeckt. Da stand auch was von einem Institut in Gatow. An das haben sie sich gewandt, das Foto gefaxt und –Treffer! Das Mädchen ist eine Testperson an diesem Institut. Machen irgendwie
in Gehirnen
.«
    »   … und gleichzeitig führt sie selbst die Tests durch. Wahrscheinlich konnte sie deshalb am Klinikum in Zürich so selbstbewusst als Schwester auftreten, trotz ihres Alters.«
    »Davon steht hier nichts. – Kann ich den Schweizer Emils übermitteln, dass du dich kümmerst? Das Umfeld in die Zange nehmen? Den Vater befragen? Schauen, ob sie sich hierher verirrt?«
    »Ja, ja. Vor allem werde ich dem Vater mitteilen, dass seine Tochter lebt.«
    »Na, du bist ein Spaßvogel. Der freut sich einen Ast, wenn er hört, dass seine Tochter eine Mörderin ist.«
    »Er wird sich freuen, dass sie lebt. Und nicht das Opfer eines Verbrechens ist. Das andere kommt danach.«
    »Vergiss nicht, dass jeder Kontakt mit dem Vater Anhaltspunkte für den Mordfall bringen kann, Lothar.«
    »Ich bin nicht neu, Fipps.«
    »Ist ja gut. – Lass es dir schmecken.«
    »Inzwischen ist es kalt.«
    »Die Griechen essen immer alles kalt.«
    »Ach ja?«

40
    Der Mann war
doch
kein Block aus Eis.
    Noëlle tastete sich an der Fensterfront entlang und schaute auf Berlin in der Nacht. Lichtergitter, flirrende Schneisen in Weiß und Karbidorange. Sie trug nichts außer ihrem goldenen Armreif und Mascara. Zärtlich streichelte sie die Glasscheiben, die noch vom Tag in der Sommersonne gewärmt waren.
    Niemand konnte in die oberste Etage des Punkthochhauses hineinsehen, es sei denn, er kam mit dem Hubschrauber. Oder er hatte ein Teleskop und Interesse an dem aus drei Wohnungen zusammengelegten Apartment ohne Wände und an der von innen kaum beleuchteten, um alle vier Seiten laufenden Fensterlinie.
    Lascheter beobachtete sie vom Bett aus. Von dort konnte man in alle Himmelsrichtungen schauen, aber im Moment war seine Aufmerksamkeit auf den schlanken, kräftigen Körper am Fenster gerichtet.
    Dieser Körper ist nicht das, was man »nackt« nennt. Sie ist wie ein Tier in der Savanne, das schleicht und die Muskeln anspannt, Arme und Hände langsam, tastend bewegt. So muss sie sein und bleiben. Jedes Kleidungsstück ist unnatürlich an ihr.
    Er zog sich die schwarzblaue Decke über den Oberkörper. Mit 58 fühlte er sich noch gut in Form. Sport, Vitamine, regelmäßiger Sex und ein paar Medikamente sorgten dafür. Aber er hatte nicht das Bedürfnis, seinen Körper neben dem ihren nach dem Aussehen zu messen.
    »Ich möchte mich frisch machen«, sprach sie. Ihre Stimme war jetzt sehr schön. »Öffnest du uns noch einen Champagner, Eugen?«
    »Geh nicht unter die Dusche, No! Ich muss deinen Geruch haben. Komm her.«
    Langsam schlenderte sie auf ihn zu.
    Er beugte sich vor, griff kräftig, aber nicht brutal in ihre langen blonden Haare, zog sie zu sich heran und ließ die Haare über sein Gesicht flirren. Er atmete tief ein. »Ich rieche, dass du meine Beute bist.«
    Sie lächelte mit einem kleinen Laut. »Lass mich einen Moment abkühlen. Ich bin gleich wieder bei dir.« Er ließ sie gehen und verfolgte jede Bewegung und jeden Muskel bei ihrem Gang ins Bad.
    Er ist kein Eisblock. Ich wusste das mit seiner Frau nicht. Wie schrecklich, die ganze Familie! Wann, sagte er, war das? ’84 hat er Marianne geheiratet. Eugen als Hirnchirurg in den USA. Sie bekommen einen Sohn, alles läuft gut, er studiert sogar neben der Arbeit Psychologie. Dann der Raubüberfall auf Marianne. Wegen sechzig Dollar! So was gibt es doch nicht, wegen sechzig Dollar erschießt jemand eine Frau in ihrer Wohnung. Und der Junge läuft in Panik auf die Straße. Vom Auto erfasst. Ein gerade mal zweijähriges Kind! Mit einem Schlag ist alles weg, was der Mann hat.
    Sie hatte wieder Tränen in den Augen. Wenn ich flenne, hilft das auch nichts. Er hat mich eingeweiht. Er wird das nur wenigen erzählen. Anschließend hatten sie sich geliebt.
    Sie trat aus dem Bad, das von einer Schnecke aus Milchglas eingekreist wurde. Für den Moment hatte sie das Gefühl, in ein geräumiges Flugzeug zurückzukehren, oder in ein Raumschiff, von dem aus man die Erde beobachten konnte. Sie kam an einer Art ovaler Litfaßsäule vorbei, ander Fotos befestigt waren. Der Mond schien von der einen Seite, die Kerzen von der anderen. Ihre Augen gewöhnten sich langsam wieder an die zwielichtige Dunkelheit.
    Was sind das für Bilder? Ah   –