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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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Gehirne.
    Sie musste kichern.
    Logisch.
    »No! Hier ist eine neue Flasche Champagner, und ich brauche ein Gefäß, um ihn zu trinken. Du bist genau richtig!«
    »Eine Sekunde, Eugen   … Was sind das für überdimensionale Gehirne?«
    »Meine Arbeit. Ich will dich nicht langweilen.«
    Sie setzte sich neben ihn aufs Laken. »Das tust du nicht. Ich wüsste gern mehr, was du machst. Was dich bewegt.«
    Wohl oder übel nahm er die Gläser zu Hilfe.
    Sie stießen an.
    »Es sind die Testreihen T44b und T44c. Ja, die gibt es. Du weißt, dass mein Ziel darin besteht, der Pubertät ihren Schrecken zu nehmen. Die Jungen denken plötzlich schmutzige Dinge   … « Er griff im Halbdunkel nach ihr, und Noëlle schrie auf. »He!« Sie küsste ihn auf die Glatze.
    »Du willst wirklich, dass ich jetzt von meiner Forschung erzähle?«
    »Ich brenne darauf.«
    »Hm. Ich hatte dir erklärt, was während der Pubertät im Gehirn passiert: Die alte, graue Hirnsubstanz wird peu à peu ersetzt durch eine weiße Masse. Das ist das Myelin, das die neuen oder übrig gebliebenen Nervenzellen umhüllt, schützt und superleitfähig macht.«
    »Ja, Professor!«, lispelte sie belustigt.
    »Die Umbauphase empfinden die Patienten als wahren Horrortrip. Sie wissen nicht, warum alles um sie herum undmit ihnen nicht mehr stimmt. Gut, der erste Schritt wäre Aufklärung. Kinder und Eltern sollten wissen, dass der Krampf dieses Lebensabschnitts eine so simple biochemische Ursache hat. Viel schlimmer aber ist, dass die Natur zuerst die ältesten Hirnareale myelinisiert und erst ganz zuletzt den präfrontalen Kortex, also den Sitz des Verstandes.«
    »Soweit kann ich folgen«, sagte Noëlle und nippte Champagner, in dem sich Kerzenlicht brach.
    »Dann erinnerst du dich auch an meine Erklärung, dass die ältesten Hirnareale, also beispielsweise das Stammhirn, zuerst dran sind und dass die ganz unten liegen. Die weiße Substanz verbreitet sich von unten nach oben. Die Kinder werden risikofreudig und mutig, gleichzeitig sinkt der Dopaminspiegel, was sie zusätzlich anfeuert, Blödsinn zu machen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Der Verstand im präfrontalen Kortex würde den Jugendlichen zur Vernunft bringen, aber da ist die weiße Masse längst nicht angekommen! Im schlimmsten Fall dauert es zehn Jahre, bis auch dort Leistung gebracht wird. Viele Menschen werden erst mit 20 oder 22 halbwegs vernünftig. Und sie haben keine Schuld daran, es ist die vermaledeite Hirnentwicklung. Sie folgt dem Baukastenprinzip des Gehirns. Wäre das ganze Gehirn ein einziger, genialer Wurf – sagen wir: der eines Gottes   –, dann gäbe es zwar die Myelinisierung auch. Denn sie beinhaltet ja die Chance, aus einem Kind mit schweifenden Interessen einen Erwachsenen mit Charakter, Vernunft, Ziel und Festigkeit zu machen. Aber die weiße Masse würde sich nicht von unten anschleichen, sie würde mindestens gleichzeitig das ganze Hirn erfassen, also auch die Großhirnrinde. Immerhin ist sie der Ort, der uns Menschen von allem anderen Sein unterscheidet.«
    Sie stöhnte, und es klang glücklich.
    »Hast du das Problem begriffen, No?«
    »Ja. Eugen. Ich bin über 21   … « Sie lachte.
    »Pass auf! Die Sache ist einfach. Sehr simpel. Wie alle guten Ideen. – Was wäre, wenn wir die Prozesse im Gehirn, den Wechsel von Grau nach Weiß, um es ganz plump zu sagen, wenn wir den durch eine geringfügige Steuerung einfach umlenken?«
    »Umlenken?«
    »Denk nach, No! Strenge deine Hirnzellen an! Nutze deine weißen Datensuperhighways! – Wahrscheinlich reicht das Potenzial des Gehirns nicht, um die Renovierung zu beschleunigen oder in alle Areale gleichzeitig zu strömen. Wie müssten wir – ganz sanft – die Entwicklung umleiten, damit die jungen Menschen zuallererst den Verstand haben, den Umbau zu begreifen – und sich also ertragen können?«
    Sie wagte keinen Fehler. Nicht jetzt. »Na, zuerst müsste der präfontale   … präfrontale Kortex weiß werden, und erst danach der Rest.«
    Er stieß feierlich mit ihr an. »Kommst du mit mir nach Stockholm, No?«
    Sie ließ sich auf Körperstellen küssen, die sie eben vergessen hatte.
    »Eugen   … Geht denn das?«
    »Warum nicht? Wir steuern Hormone so, dass sie sogar eine Schwangerschaft, den Gipfel des Körperlichen, entweder vermeiden oder erst möglich machen. Wir beruhigen Menschen, die haltlos umherirren. Wir geben Menschen Freude, die in einem Loch stecken und nie mehr herauskommen würden. Wir tun doch schon alles.

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