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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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über zwei Kilometer hoch, da wachsen keine mehr«, sagte die Ältere, die unbezweifelt die Deutungshoheit hatte.
    Auf dem Flug nach Zürich hatte sich Melina mit Petrarcas zweitem Band des
Opera quae extant omnia
abgelenkt – jedenfalls bis ihr Sitznachbar sie nach dem Latein fragte und wissen wollte, ob man
heutzutage
»Käsar« oder »Zäsar« sagt. Sie hatte angefangen, ihm zu erläutern, dass es »Kaisar« heiße, mit weichem S, und damit war für Ablenkung genug gesorgt.
    Pia hatte ihr das Geld gegeben. Pia baumelte an einer mit Leder umwickelten Liane und schwang zwischen ihren Fahnen, denen große Buchstaben aufgenäht waren. Normalerweise hätte Melina gefragt. Aber nicht jetzt. War das Pias Inszenierung? Hatte es mit Jenissej zu tun? War es eine Probe oder erst die Ideenfindung? Aber nicht jetzt, wo Pia und Jenissej besänftigt oder betäubt meinten, alles sei in Ordnung, und sich wieder ihrem Spielzeug zuwandten. Sie hatten ihre Ruhe gefunden, weil sie die Nachricht von LenasTeilnahme an der Reise und vom Streit mit der Jugendgruppe als Lebenszeichen interpretiert hatten. Dass das Mädchen ausrastete und für ein paar Tage von der Bildfläche verschwand, waren sie gewohnt.
    Dennoch war es Pia, die Melina darin bestärkte, am Wochenende nach Graubünden zu reisen. Während sie mit dem Kopf nach unten das Seil mit den Beinen umschlang, fragte sie, warum Melina nicht einfach das Angebot von PALAU annahm und bei einer der Jugendfahrten mitmachte. Melina brachte die üblichen Vorbehalte: Studium und Zeit und – das Institut fiel jedoch nun weg. Dafür erwähnte sie, dass sie den Umgang mit Jugendlichen in Gruppen mied, wenn es ging – was einen Lachanfall bei Pia auslöste, gefolgt von einer spontanen Inszenierung über eine Lehrerin, die Angst vor ihren Schülern hat.
    Melina war von der Reise überzeugt, bevor Pia fertig war, sie zu überreden. Wenn sich die beiden nicht um Lena kümmern, fahre ich eben nach Graubünden. Bald müsste die nächste PALA U-Gruppe hinunterfahren. Vielleicht nimmt Lena vorsichtig Kontakt mit denen auf. Außerdem erfahre ich, was auf diesen Touren abgeht.
    Von Müller, dem neuen Jugendkoordinator bei PALAU, erfuhr sie, dass eine Gruppe am Freitag in die Südschweiz aufgebrochen war. Das übliche Programm: Mit der Alp Grüm als Ausgangsbasis, dann nach Chantarella bei St.   Moritz und schließlich – je nach Wetterlage – in eine eigene Hütte am Fuße des Corvatsch. Die nächste Reise sei für Ende August vorgesehen.
    Melina bekundete ihr Grundsatzinteresse an einer Reisebegleitung, und Müller hatte Erfreuliches zu notieren. Sie aber war entschlossen, sofort aufzubrechen und sich der Gruppe anzuschließen, ohne dem PALAU Bescheid zu geben.So bin ich nicht an die gebunden. Eine private Reise, bei der ich zufällig auf die Kids treffe.
    Auf
Lena,
hämmerte ihr Gehirn.
    »Ist das nicht ein tolles Bild?«
    Die Mutter-Schwester-Freundin auf der Sitzreihe neben Melina fotografierte. Rechter Hand zog sich sanft eine grüne Fläche den Berg hinauf, so weit man sehen konnte, durchsetzt von kleinen Stäbchen mit einer Seilbahn. Auf der Wiese, zwischen hellem Geröll, war eine Armada roter Räumfahrzeuge aufgereiht.
    Jenissej hat sich intensiv mit Lenas Filmen beschäftigt. Warum macht er nicht weiter? Wieso lässt er sich betäuben von einer einzigen Erklärung? Von wegen:
Ignoranz
. Sicher, er muss sich auf seine Arbeit besinnen, sonst kommt er mit dem Theater nicht weiter.
Nulla dies sine linea
– als Künstler muss er jeden Tag mindestens einen Pinselstrich machen, sozusagen. Aber doch nicht jetzt! Lena ist seine Tochter.
    Der Zug schlängelte sich um zwei kleine Seen, den Lej Pitschen und den Lej Nair.
    »Sehen Sie das Schild? Das da! Schauen Sie!«
    Eine gelbe Tafel mit ausgestochenen Buchstaben markierte die
Wasserscheide
. Ein Pfeil nach links wies in Richtung Adria, der nach rechts zum Schwarzen Meer.
    »Was soll
das
denn?«, fragte Melina. Das war das erste Mal, dass sie in diesem Zug ein Wort von sich gab.
    »Wir sind so hoch – da kann das Wasser des Sees nur in die eine oder in die andere Richtung abfließen. Und dort an der Stelle muss sich das Wasser
entscheiden

    Melina stand auf und schaute hinaus. Die Panoramawagen des roten Zuges waren ausgebucht. In dem älteren Waggon konnte man dafür die Fenster hinunterschieben. Allerdings bestanden die beiden klugen Frauen seit Samedandarauf, sie wegen des Fahrtwindes geschlossen zu halten.
    Sie sah eine Eisscholle.

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