Jung genug zu sterben
Warum sollen wir nicht diesen kleinen, dummen Prozess umlenken? Stell dir ein zwölfjähriges Mädchen vor oder einen dreizehnjährigen Jungen. Beide merken eines Tages, dass sie leichterlernen. Sie haben jeden Tag einen Geistesblitz, vielleicht sogar jede Stunde. Ihre Körper sind noch kindlich, aber sie sehnen sich nach Wissen und Weisheit. Sie gehen in Bibliotheken, ins Internet, sie informieren sich, was mit ihnen geschieht. Ihr Verstand erkennt, dass sie sich langsam von ihren geliebten Eltern entfernen müssen, noch ehe es den ersten Pubertätszoff gibt. Sie werden das eine oder andere vernünftige Gespräch mit dem Vater und der Mutter führen, ihnen die Notwendigkeit darlegen, selbständig zu werden. Und erst nach und nach wachsen dann der Mut und die Courage heran, aus den Worten werden Taten. Taten, die jahrelang vorher bedacht werden können. Kannst du folgen?«
»Na ja … «
»Das Ganze ist nichts Unnatürliches. Wir arbeiten nicht mit Medikamenten, wir operieren nicht, wir durchtrennen nichts und pflanzen nichts ein. Wir nehmen einfach die Veränderungsenergie der Natur und drehen sie ein wenig. Wir verändern nur die Reihenfolge.«
»Es klingt … trotzdem utopisch.«
»Aber ja. Was ist einzuwenden gegen die Utopie? Die Medizingeschichte wäre gar nicht denkbar ohne Utopien.«
»Was meinst du?«
»Einmal hieß die Utopie:
Ärzte, Doctores, wascht euch die
Hände, bevor ihr eine Geburt begleitet
. Was für eine Frechheit, den Ärzten in die Privatsphäre hineinzuregieren! Und doch sank nach dieser Order des Waschens die Sterblichkeitsrate der Frauen im Kindbett rasant. Oder eine andere Utopie:
Lasst uns einen Pilz in den Körper injizieren, um das
tödliche Fieber zu vernichten
. Eine Utopie, die Alltag wurde. Ich knie vor Robert Koch!
«
Sie lächelte. »Du willst, dass die Leute vor dir knien? InStockholm? Ich dachte, du solltest den Preis für deine Callosotomie und die Traumforschung bekommen.«
Er küsste ihre Taille. »Ich bete dich schon an, weil du das Wort
Callosotomie
aussprechen kannst! Du bist ganz sicher die einzige Assistentin in dieser Stadt, die weiß, was das ist. Wusstest du, dass Marie Curie zweimal den Nobelpreis bekommen hat?«
»Physik und Chemie«, sagte sie, und Lascheter sah sie an, als erinnere er sich an ihre Kindheit.
Die Kerzen fackelten, aber Lascheter war nicht mehr da, als Noëlle etwas später in der Nacht aufwachte.
Ich bin eingenickt … Wo ist er?
Sie rief nach ihm. Weit konnte er nicht sein.
»Eugen …?«
Da stand er neben ihr, auf der anderen Seite des Bettes. Das Kerzenlicht fiel seitlich auf Lascheters Gesicht und verlieh ihm Härte. Seine Glatze wirkte heller als sonst. Er sagte nichts. Reichte ihr ein Cocktailglas mit Champagner.
»Oh, das könnte ein Schlückchen zu viel sein.« Sie nahm es. Sie hielt das Glas ins Kerzenlicht. Die perlende Flüssigkeit hatte einen kupferfarbenen Einschlag.
»Probiere.«
Zuerst schnupperte sie und zog die Nase reflexartig zurück. Sie nippte. Es war bitter, aber auf der Zungenspitze gab es auch eine deutlich süße Note.
»Was ist das?«
»Ein Spritzer Angostura. Außerdem Tropfen von drei Likören. Unter anderem Parfait d’amour.«
»Parfait d’amour? Vous êtes parfait, mon grand amour!« Sie nahm einen guten Schluck. »Und du, Darling?«
»Ich habe schon zwei davon genossen, während du schliefst.« Er stand weiter neben dem Bett.
»Es tut mir leid, dass ich eingeschlafen bin.«
»Wie schmeckt er dir?«
»Wundervoll.«
»Magst du noch einen?«
»Es ist schon einer zuviel. Kannst du ihn mir abnehmen?«
Professor Eugen Lascheter nahm das Cocktailglas entgegen.
»Puh!« Sie ließ sich ins Kissen zurückfallen. »Es ist echt nicht … Will sagen: Es ist … «
Sie erinnerte sich an die Blinddarmoperation vor zehn Jahren, an die Narkose. Es war das angenehme Gefühl gewesen, eine unsichtbare Kraft drücke ihr langsam, aber bestimmt die Augen zu. So war es jetzt auch. Sie merkte, dass sie fortglitt.
Sie wusste nur noch nicht, dass es keine Rückkehr für sie gab.
41
»Es gibt keine Bäume mehr.«
Melina quittierte den Hinweis mit einem Nicken, das ihr während der Fahrt zur Routine geworden war. Die Frauen waren nicht gleich alt. Mutter und Tochter? Schwestern? Freundinnen? Es war egal, ebenso wie die Landschaft. Melina registrierte spektakuläre Bergsichten und Panoramen, aber sie wollte sich auf ihr Ziel konzentrieren, und das hieß Lena.
»Das liegt an der Höhe. Wir sind
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