Jung genug zu sterben
Aber
aus ermittlungstaktischen Gründen,
wie es so schlecht heißt, musste ich auf die Kollegen warten. – Sie haben von ihr nach wie vor nichts gehört? Kann das jemand bezeugen? Ich meine, ich weiß, das ist eine blöde Frage.«
»Keine Ahnung. Was ist los?«
»Lassen Sie uns in Ruhe sprechen, Jenissej. Vielleicht ist nichts dran. Die Schweizer haben einen Verdacht. Ein Verdacht ist ein Verdacht. Mehr nicht.«
Der hat keinen blassen Schimmer von der Sache im Zürcher Klinikum, dachte Melchmer schon nach Minuten. Von Pia hatte er diesen Eindruck sowieso. Kein Anzeichen von Nervosität, wie sie Eltern haben, die ihre Tochter vor der Polizei verbergen. Auch nicht das Verhalten eines Mannes, der alles von langer Hand eingefädelt hat.
»Mein Kollege Sinker – das ist der Herr mit dem dezent primatenhaften Habitus, ich weiß nicht, ob Ihnen das aufgefallen ist, Jenissej … Er ist aber ein Netter, ich lege für ihn meine Kastanien ins Feuer, sozusagen. Er würde sich gern Lenas Zimmer ansehen und ihren Computer mitnehmen.«
»Sie müssen mich doch nicht um Erlaubnis fragen, oder?«
»Nein. Aber Sie könnten ja, beispielsweise, darauf bestehen, dass
ich
das mache. Weil Sie den Eindruck haben, dass ich viel sensibler bin. Und weil Sie glauben, dass ich ein netter Typ wäre, wenn ich mehr von Theater verstünde.«
Jenissej grinste matt. »Von mir aus. – Die Wohnräume gehen Sie also auch durch? – Klar, müssen Sie ja. – Sie waren schon mal in Lenas Zimmer. Da ist Ihnen nichts aufgefallen, oder?«
»Doch«, sagte Melchmer. »Ich habe festgestellt, dass man schwarze Tapete mit großen Mustern haben kann, auch in einem winzigen Raum. Nicht meine Sache. Aber wahrscheinlich modern für ein Mädchen in Lenas Alter, und dieses Muster mit den matten und glänzenden schwarzen Lilien sieht ja sogar edel aus. Auch der Rest: weiß, silber, weiß. Computer, Kopfhörer, der übliche Schnickes. Geschmack hat sie. Ich erinnere mich an drei Sachen, die für mich nicht ganz ins Bild passen. Die Kollegen sehen das vielleicht anders oder finden noch was.«
»Und zwar?«
»Das erste sind zwei eher billig wirkende Poster hinter der Tür. Ein Trupp Germanen mit E-Gitarren , würde ich sagen.«
Jenissej lachte. »Sie ist Pagan-Fan. Das ist eine Musikrichtung, die eine Zeitlang angesagt war. Ich glaube nicht, dass sie das jetzt noch oft hört. Aber sie hängt dran.«
»Das zweite ist ein Holzmodell mit – wie sagt man – Planetenbahnen? Könnte ich mir auf meinem Kamin vorstellen.Wenn ich einen hätte. Aber in Lenas Zimmer passt es nicht. Erinnerungsstück?«
Jenissej nickte. »Ich habe es ihr gekauft. Am Tag, als ihre Mutter starb. Wir hatten – einen wunderschönen Tag. Vorher. Wir haben Blödsinn getrieben und in Berlin Sachen gekauft, darunter auf dem Flohmarkt dieses Ding. Plötzlich konnte man mit ihr sprechen wie mit einer Erwachsenen. Sie war anders. Und ich auch.« Er dachte nach.
Melchmer sah ihn an.
»Ja, wir waren uns komischerweise so nah … « Er schluckte. »So nah wie wahrscheinlich davor nicht – und danach auch nie mehr.«
Melchmer nickte. »Die Erinnerung spielt einem manchmal einen Streich. Es wird andere gute Stunden zwischen Ihnen gegeben haben.«
»Vorher, ja. Da haben Sie wahrscheinlich recht. Die Mitteilung, dass Hesther tot war … Das platzte wie eine Bombe rein. Und einerseits war ich sogar froh, dass ihr Leiden aufgehört hatte. Wahrscheinlich hat Lena das gespürt und es mir nie verziehen.«
»Aber sie hat das Modell behalten.«
Jenissej lächelte. »Ich habe sie nie darauf angesprochen.«
»Das sollten Sie demnächst tun«, sagte Melchmer.
Jenisssej sah ihn überrascht an. »Ja … Danke.«
»Das Planetenmodell könnte einen Bezug zu Lenas Filmen haben, oder nicht?«
»Ja, der Gedanke daran hat mich darauf gebracht, dem Kepler’schen Sphärenmodell zu folgen.«
»Aber es erleichtert die Deutung nicht? Weiterhin Geheimniskrämerei? – Tja, ärgerlich. – Dann war da noch was Drittes. Nämlich rosarote Kettchen.« Er sprach es aus, als seien es Ausscheidungen.
Jenissej lachte laut und befreit und wischte sich Schweiß von der Stirn. »Grauenvoll! Hat sie seit der ersten Klasse getragen. Zu jeder Gelegenheit. Das Plastik ist längst bröselig und ausgewaschen. Das Kitschigste aus ihrer Kindheit.«
»Rosebud«
, sagte Melchmer leise.
»Sie wusste, dass es uns ärgert, wenn sie so rumläuft. Speziell mich. Sie hat sie nur angelegt, um mich zu ärgern. Definitiv.
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