Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
in zwei unterschiedlichen Varianten produziert wird, von denen die eine effektiver ist als die andere. Studien zeigen, dass dieser Unterschied im BDNF schon im jungen Erwachsenenalter die Leistungsfähigkeit unseres Arbeitsgedächtnisses beeinflusst, richtig dramatisch wird der genetische Unterschied aber jenseits des 85. Lebensjahres. Diese Befunde zeugen nicht nur von der außerordentlichen Dynamik genetischer Einflüsse, sie können auch erklären, warum sich die Schere der kognitiven Leistungen mit zunehmendem Alter immer mehr öffnet.
Darüber hinaus spielt noch eine Rolle, wie sehr wir uns vom Alter stressen lassen, denn das Stresshormon Cortisol unterdrückt die Produktion von BDNF ! Empfinden wir eine Situation als extrem stressig, erzeugt der Körper das Stresshormon Cortisol. Dies führt dazu, dass eine ganze Reihe von Neurotransmittern in großen Mengen den Körper überflutet. Und wie jede Flut, so hat auch diese massive Folgeschäden: Menschen mit Dauerstress haben einen kleineren Hippocampus.
Zurück von den Molekülen auf die ganz konkrete Ebene des erlebten Stresses bei älteren Menschen, der aber wie oben erwähnt auch eine Rückwirkung auf unsere Hirnstrukturen hat: Eine ältere Dame steht vor dem Geldautomaten ihrer Bank. Dutzende Male hat ihr die Tochter erklärt, wie das geht: Die Bankkarte in den Automaten stecken, »Geld abheben« wählen, die PIN -Nummer eingeben, dann den Betrag, »bestätigen« drücken, Karte und Geld entnehmen. Es scheint so einfach – und es ist normalerweise auch kein Problem, den Anweisungen auf dem Bildschirm zu folgen. Doch als zwei Personen hinter ihr in der Reihe schon ungeduldig warten, dass sie den Vorgang beendet, weiß die ältere Dame plötzlich nicht mehr, was zu tun ist. Sie ist unsicher, was von ihr gefordert ist, vergisst, »bestätigen« zu drücken, der Vorgang wird abgebrochen. Die Wartenden hinter ihr beschweren sich grummelnd. Beim dritten Fehlversuch wird die Karte eingezogen. Die ältere Dame schämt sich, den Angestellten an der Kasse zu bemühen, und schwört sich, nie wieder zu versuchen, Bargeld am Automaten abzuheben. Sie gibt angesichts der vermeintlich komplizierten Technik auf. Durch Zeitdruck und sozialen Druck verursachter Stress lässt sie verzweifeln.
Postkarte aus dem Leben
Es ist lange diskutiert worden, ob es eine »natürliche« Grenze menschlichen Lebens gibt. Eine andere, vielleicht sogar relevantere Frage ist, wie lange unser Gehirn geistig leistungsfähig sein kann, denn was nützt ein langes Leben, wenn das Organ, durch das wir dieses Leben genießen, nicht mehr funktioniert. Wir müssen Leben in unser Leben bringen und nicht nur auf die Lebensjahre gelebten Lebens schauen! In diesem Kontext hat eine niederländische Arbeitsgruppe eine bemerkenswerte Studie über die bisher älteste holländische Seniorin, Frau Andel-Schipper, veröffentlicht, die 2005 mit 115 Jahren verstarb. Schon 33 Jahre vorher hatte sie sich als damals 82-Jährige bereit erklärt, ihr Gehirn der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Als sie 102 Jahre alt wurde, kamen ihr Zweifel, ob ihr Gehirn, »löchrig« wie es war, der Wissenschaft überhaupt noch von Nutzen sein könne. Zu ihrer großen Freude wurde ihr versichert, das würde es bestimmt sein, und in der Tat erwies sich das Gehirn dieser Frau nach ihrem Tod als äußerst wertvoll: Es wies keine Spuren einer beginnenden Demenz auf, keine alzheimertypischen Plaques (= Proteinausfällungen, siehe Kapitel 7) und auch keine Neurofibrillen, wie sie ebenfalls typisch für Alzheimer-Patienten sind. Selbst eine Arteriosklerose (Verengung der Gefäße durch Ablagerungen) war nur in einem geringen Ausmaß sichtbar. In Übereinstimmung damit haben auch kognitive Tests, die wenige Jahre vor dem Tod der Seniorin durchgeführt wurden, ergeben, dass sie trotz ihres hohen Alters noch mit 60- bis 70-Jährigen mithalten konnte, ja die Leistungen dieser Altersgruppe in Teilbereichen noch überflügelte.
Wie aber kam es dazu? Dass viel Bewegung gesund ist, war der begeisterten Anhängerin des Fußballclubs Ajax Amsterdam bekannt. Ihr Gedächtnis war ebenfalls noch außerordentlich gut intakt und beinhaltete sogar die Thronbesteigung von Königin Wilhelmina 1898 (deren Urenkelin Königin Beatrix sie auch noch treffen durfte). Jetzt kann man aus einem Einzelbefund keine allgemein gültige Regel ableiten, aber es zeigt sich, dass die Annahme, dass Alterungsprozesse zwingend zum Abbau des Gehirns bis hin zu einer Demenz
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