Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
offensichtlichsten aller Altersphänomene (wenn man von der Alterung der Haut absieht) ist das Bild wesentlich uneinheitlicher, als wir es oft wahrnehmen, denn auch die Gedächtnisleistungen sind je nach Aufgabe und geforderter Geschwindigkeit differenzierter zu betrachten. Vor allem wenn man bedenkt, dass die gleichen Studien, die oben zitiert wurden, zeigten, dass ein Drittel der Versuchsteilnehmer, die zwischen 25 und 35 Jahre alt waren, sich ebenfalls für vergesslich hielten. Mit dem Unterschied allerdings, dass die jüngeren Semester ihre Vergesslichkeit auf den alltäglichen belastenden Stress schoben, während die älteren Mitbürger ihr Alter verantwortlich machten! Die amerikanische Autorin Diane Ackermann bringt es so auf den Punkt: »Die meisten Leute, die ich kenne, haben Angst davor, ihr Gedächtnis zu verlieren, eine Art Massenhysterie, so als würde jeder vergessene neue Name ein Vorbote der Alzheimer-Erkrankung sein.«
Schatzkammern der Erinnerungen
Warum trifft das Thema Gedächtnis einen so empfindlichen Nerv bei uns? Weil wir dieses Gedächtnis nicht nur brauchen, um verlegte Schlüssel wiederzufinden oder uns eine wichtige PIN - oder Telefonnummer zu merken, sondern noch für endlos vieles mehr. Unsere Identität, Persönlichkeit und die Gesamtheit unserer intellektuellen Fähigkeiten haben sich im Laufe unseres Lebens um eine Summe an Erfahrungen herum ausgebildet, die wir bewahren wollen und die in den verschiedenen Schatzkammern unseres Gedächtnisses abgelegt sind. Im Alltag setzen wir ständig unser Gedächtnis ein – meistens ohne uns dessen bewusst zu sein. Aber schon bei der kleinsten Gedächtnislücke sind wir verunsichert, vor allem wenn wir älter werden. Denn wir sind komplett abhängig von unserem Gedächtnis. Nicht nur, um uns an unsere autobiographischen Erlebnisse zu erinnern oder einen Termin nicht zu vergessen, sondern weil wir unser Gedächtnis auch zum Gehen, Reden, Träumen, Sprechen, Riechen, Pläneschmieden brauchen oder um Angst und Liebe zu empfinden. Ohne Gedächtnis wären komplexe Gedanken kaum möglich. Erst durch unser Gedächtnis erleben wir die Welt – und uns selbst. Nur durch die Kraft des Gedächtnisses wissen wir, wer wir sind, was wir gerne mögen, welchem Fußballverein wir anhängen, welche TV-Soap wir mögen (und wann sie im Fernsehen gesendet wird) und welchen Beruf wir ausüben. Unser Gedächtnis ist eng verwoben mit allen intellektuellen Fähigkeiten. Und unsere persönliche Geschichte, Erfahrungen und Interessen sind eng verwoben mit Gedächtnisleistungen, ohne dass wir uns die Komplexität der Vorgänge klarmachen. Amnesie – sein Gedächtnis zu verlieren – bedeutet entsprechend, nicht nur seinen Namen nicht mehr zu kennen, sondern in gewisser Hinsicht, sich selbst nicht mehr zu erkennen. Man wird sich selbst ein Fremder.
Die Bedeutung des Gedächtnisses für Menschen jeden Alters ist unbestritten. Und im Allgemeinen können wir uns auch im Alter auf die Gedächtnisfunktionen unseres Gehirns blind verlassen. Denn das Gedächtnis besitzt bis in das hohe Alter hinein eine immense Fähigkeit zum automatischen Speichern und Abrufen von Informationen. Da wir dies nicht bewusst tun, meinen wir oft, das Gedächtnis würde im Alter generell schlechter, und bedenken gar nicht, was wir alles automatisch aus dem Gedächtnis heraus erinnern, wie wir die Welt und bestimmte Situationen sortieren. Was mit zunehmendem Alter tatsächlich schwieriger wird, ist der präzise Abruf von Fakten und das Erlernen neuer Inhalte in kurzer Zeit. Was wir bei Letzterem allerdings häufig vergessen, ist, wie stark die Gedächtnisspeicherung von Wille, Aufmerksamkeit und Motivation abhängt und auch davon, was wir uns zutrauen, noch leisten zu können.
»Je schöner und voller die
Erinnerungen, desto schwerer
die Trennung. Aber die
Dankbarkeit verwandelt die
Qual der Erinnerung in eine
stille Freude. Man trägt das
vergangene Schöne nicht
mehr wie einen Stachel,
sondern wie ein Geschenk
kostbar in sich.«
Dietrich Bonhoeffer
Daneben erschweren andere Randbedingungen das Lernen im Alter: Im Alter fehlt es häufiger an Neugierde, an Aufmerksamkeit und an der richtigen Lernstrategie. Die mangelnde Lust auf Neues wie die Abnahme der Aufmerksamkeit hängen damit zusammen, dass die Anzahl der Nervenzellen im Gehirn, die mit Dopamin arbeiten, im Zuge des Alterungsprozesses abnehmen (siehe Kapitel 3). Damit sinkt die Menge an verfügbarem Dopamin, welches als eine Art Turbolader
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