Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
Arbeitsgedächtnis und bestimmte Gedächtnisaspekte mit dem Alter abnehmen? Was unterscheidet Weisheit von anderen Gehirntätigkeiten? Und wie kommt es, dass sie mit fortschreitendem Alter eher zu- als abnimmt?
Um diesen Fragen wissenschaftlich nachzugehen, muss man sich anschauen, welche Merkmale Weisheit konstituieren könnten (Abb. 26). Eine allumfassende Definition verbietet sich hier zwar, aber angelehnt an ein Modell des Psychologen Paul Baltes lassen sich folgende Aspekte nennen:
1. Man muss sich neben allen anderen Qualitäten, die weise Menschen brauchen, schon sehr gut auskennen, um einen Rat geben zu können, auf den die meisten anderen nicht gekommen wären. Facettenreiches Faktenwissen über die Welt, das man auch als Experten- oder Berufswissen bezeichnen kann, gehört konstituierend zur Weisheit hinzu.
2. Um in schwierigen Lebenslagen hilfreiche Strategien generieren zu können, bedarf es eines reichen Strategiewissens. Dazu gehört nicht nur eine Lösungsstrategie, sondern auch eine Methode, mit der diese auf überzeugende Art vermittelt wird. Daneben gilt es zu berücksichtigen, was eine Person oder Organisation als Lösung bzw. als Lösungsweg akzeptieren würde.
3. Im Alltag suchen wir meistens Rat in schwierigen zwischenmenschlichen Fragen. Jemanden, der komplexe Lebenslagen beurteilen und für sie einen Rat oder gar eine ganze Palette an Ratschlägen parat hat, bezeichnen wir als weise. Gefragt ist hier Wissen darüber, wie Lebensprobleme in zeitliche und lebensweltliche Kontexte eingebettet sind und in welcher Weise sich Lebensentscheidungen im Zuge menschlicher Entwicklungen gegenseitig bedingen.
4. Weise Menschen geben meist klare und eindeutige Ratschläge, aber sie wissen auch, dass man anderen Ideen und Erklärungen gegenüber tolerant sein muss – kurzum: Weise Menschen wissen meist um die Relativität von Werten und Zielen.
Abbildung 26: Weisheitsmodell
Weisheit als Expertensystem, nach Paul Baltes, Berliner Altersstudie. In der Abbildung werden die im Text genannten Komponenten von Weisheit graphisch dargestellt.
5. Weisheit besteht darin, mit widersprüchlichen und undurchsichtigen Informationen, widerstreitenden Interessen und unklaren Intentionen umgehen zu können, denn gerade dann ist guter Rat teuer. Weise Menschen sind nicht nur imstande, Ordnung in eine diffuse Informationslage zu bringen, sie können auch schnell eine Gewichtung vornehmen.
Weisheit ist ein vielschichtiger und komplexer Begriff, entsprechend lohnt es sich anzusehen, wie andere Wissenschaftler den Begriffskontext der Weisheit umreißen, etwa die deutsche Soziologin Monika Ardelt, die in Florida forscht. Ardelt kommt zu einer Dreiteilung der Essenz von Weisheit:
■Kognitive Komponenten: Hier geht es um Aussagen wie »die Wahrheit wissen wollen«, Unwägbarkeiten auszuhalten, in einer vieldeutigen Welt nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch die Graustufen sehen zu können.
■Reflexion: Sie erlaubt es einem, verschiedene Perspektiven einnehmen zu können, sich glaubhaft in die Handlungsalternativen oder sich widersprechende Positionen hineindenken zu können.
■Affektivität: Die emotionale Intelligenz (siehe Kapitel 5) ermöglicht es uns, sich in andere hineinzuversetzen, die eigenen Emotionen sehr gut kontrollieren und auf einen reichen Schatz an Gefühlsregungen zurückgreifen zu können. Auf dieser Ebene zeigt sich, dass neben dem Alter (jenseits des 60. Lebensjahres) ein hohes Interesse an dem Erleben anderer Menschen wichtiger ist als die Zentrierung auf sich selbst.
Auf einer abstrakteren Ebene kann man sagen, dass Weisheit zwei Wissenskomponenten auf höchstem Niveau vereint, nämlich eine Art Expertenwissen bezogen auf Fakten plus die Art und Weise, wie man ein Problem behandelt (prozedurales Wissen). Eine solche Anhäufung von Wissenselementen bedingt, dass man bestimmte Situationen bereits erlebt haben muss, und dies setzt ein bereits lang gelebtes Leben voraus. Der vielleicht wichtigste Aspekt von Weisheit besteht also in der Problemlöse-Kompetenz.
»Es mag sein, dass
wir durch das Wissen
anderer gelehrter werden.
Weiser werden wir
nur durch uns selbst.«
Michel de Montaigne
Weisheit kann aber auch betrachtet werden als die Fähigkeit überragender Mustererkennung des Gehirns, wie dies der New Yorker Neurologe Elkhonon Goldberg in seinem Buch Die Weisheitsformel beschrieben hat. Laut Goldberg hat das 50plus-Gehirn eine ganze Palette von Matrizen bzw. Musterlösungen für viele
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