Just Listen - Roman
Stattdessen empfand ich es als überraschend angenehm. Irgendwie war es ein tröstliches, schönes Gefühl, sich ihn dabei vorzustellen, wie er die Lieder für mich aussuchte, sorgfältig ordnete und dabei hoffte, ich würde dadurch erleuchtet. Immerhin bewiesen diese CDs, dass wir einmal Freunde gewesen waren. Wenn schon sonst nichts.
In den vergangenen Wochen hatte ich mich daher durch Owens CDs gearbeitet. Nahm mir ein Lied nach dem anderen vor, hörte jeden einzelnen Track jeder einzelnen CD so oft, bis ich die Songs auswendig kannte. Jedes Mal, wenn ich mit einer CD durch war, überfiel mich eine gewisse Wehmut, weil mein Vorrat unaufhaltsam dahinschwand und irgendwann auch mit diesem Prozess Schluss sein würde. Deshalb nahm ich mir vor, die CD mit dem Titel JUST LISTEN so aufzuheben. Ohne sie mir angehört zu haben. Sie erschien mir extrem geheimnisvoll, das totale Mysterium, genau wie Owen früher. Ein Rätsel, das möglicherweise ohnehin besser ungelöst blieb, dachte ich zuweilen. Trotzdem holte ich JUST LISTEN gelegentlich hervor, hielt die CD eine Zeit lang einfach nur in der Hand, bevor ich sie wieder zuunterst in den Stapel steckte und bis zum nächsten Mal dort liegen ließ.
Als meine Mutter und ich wieder auf den Parkplatz des Supermarkts traten, stellte ich erstaunt fest, dass es schneite. Die Flocken waren von der dicken, fetten Sorte, zu schön, um irgendwo zu haften oder liegen zu bleiben. Aber wir hielten beide einen Moment lang schweigend inne und sahen ihnen entgegen, während sie lautlos vom Himmel fielen. Als wir aus der Parkbucht fuhren, fielen die Flocken schon langsamer; einige wurden vom Wind mitgetragen und verwirbelt, sodass sich kleine Schneekreise in der Luft bildeten. Wir blieben an einer Ampel stehen. Meine Mutter stellte die Scheibenwischer an. Wir beobachteten, wie die Flocken auf die Windschutzscheibe auftrafen.
»Wunderschön, nicht wahr?«, sagte sie. »Schnee lässt alles immer so frisch und neu aussehen. Findest du nicht?«
Ich nickte. Die Ampel war langsam geschaltet, die rote Phase dehnte sich endlos. Obwohl es gerade mal fünf war, wurde es bereits dunkel. Meine Mutter warf mir einen Blick zu, lächelte, stellte das Radio an. Sie betätigte den Lautstärkeregler. Auf einmal war der Wagen von klassischer Musik erfüllt. Ich drehte den Kopf zur Seite. Die Fensterscheibe drückte kalt gegen meine Wange, die hübschen Flocken fielen immer noch. Ich schloss die Augen.
Kapitel 16
Der Arbeitsplatz in der Schulbibliothek, wo ich mittlerweile meine Mittagspausen verbrachte, lag außer Sichtweite in der hinteren rechten Ecke des Raums; kaum jemand verirrte sich je dorthin. Daher irritierte mich jegliche Bewegung an diesem meinem Rückzugsort, weswegen ich Emily eher bemerkte als sie mich. Eine halbe Stunde nach Beginn der letzten Mittagspause vor den Weihnachtsferien tauchte sie urplötzlich dort auf.
Zuerst war sie bloß so eine Art flüchtiger, roter Schatten in meinem Augenwinkel, der erst ein, dann ein zweites Mal vorüberhuschte. Ich blickte von meinen Englischnotizen auf, die ich vor mir ausgebreitet hatte, weil ich vor der letzten Klausur in diesem Jahr dringend noch etwas pauken musste. Schaute mich leicht irritiert um: nichts. Regale, Trennwände, Bücherreihen, alles wie immer. Und ganz still. Eine Sekunde später hörte ich allerdings Schritte. Als ich mich umdrehte, stand sie hinter mir neben einem Regal.
»Hi.« Ihre Stimme war leise, aber deutlich hörbar. »Da bist du ja.«
Als ob man mich verlegt hätte oder ich verloren gegangen und eben erst wieder aufgetaucht war. Wie eine Socke, von der man dachte, sie wäre vom Wäschetrockner verschlucktworden. Und die dann doch plötzlich wieder da ist. Ich schwieg. Denn Panik stieg in mir hoch, brachte mich völlig durcheinander. Ich hatte mir diesen Platz ausgesucht, weil er versteckt, verschwiegen und von Wänden umgeben war. Was allerdings gleichzeitig bedeutete, dass es kein Ort war, an dem man gern in der Falle saß – im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken zur Wand.
Als Emily näher trat, lehnte ich mich unwillkürlich zurück und stieß gegen die Trennwand hinter mir. Sie blieb stehen, verschränkte die Arme.
»Hör mal«, begann sie. »Zwischen uns ist dieses Jahr einiges schiefgelaufen. Aber ich … ich muss mit dir reden.«
Irgendwo in der Nähe konnte ich Stimmen hören, eine männliche und eine weibliche. Die dazugehörigen Menschen plauderten miteinander, während sie durch die
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