Just Listen - Roman
neben meinen Füßen. Ich vergrub den Kopf in meinen Händen, presste die Handflächen vor die Augen. Die Tränen flossen weiter. Ich weinte und weinte, dort in der Bibliothek, in mein Eckchen verkrochen, bis ich mich innerlich ganz wund fühlte.
Ich hatte totalen Schiss, entdeckt zu werden. Doch niemand kam. Niemand hörte mich. Dabei klangen meine Schluchzer in meinen Ohren total beängstigend, wie etwas Primitives, Wildes. Urschreie. Wenn es mir möglich gewesen wäre, hätte ich garantiert so schnell wie möglich damit aufgehört. Ich ertrug mich ja selbst kaum in dem Moment. Aber ich konnte nichts anderes tun, als es auszuhalten, durchzustehen, bis es – und ich – fertig waren.
Irgendwann, endlich, war es vorbei. Ich nahm die Hände runter, blickte mich um. Nichts hatte sich verändert. Die Bücher standen noch auf den Regalen, der Staub tanzte noch im Licht, die Visitenkarte lag vor mir auf dem Boden. Ich streckte die Hand aus, fasste die Karte an einer Ecke an, hob sie auf. Las nicht, was draufstand, blickte nicht einmal richtig hin. Aber ich steckte sie in meine Schultasche, stopfte sie ganz hinten unten hinein. Die Klingel ertönte. Die Pause war zu Ende.
***
Den Rest des Tages über herrschte die übliche Hektik kurz vor Schluss; die Unruhe vor den Weihnachtsferien war körperlich spürbar. Jeder zählte die Minuten bis zu ihrem offiziellen Beginn.
Ich wurde mit meiner Englischklausur erst ziemlich spät fertig. Ging anschließend zu meinem Spind und zur Toilette, die leer war, bis auf ein Mädchen, das sich dicht zum Spiegel vorbeugte, um flüssigen blauen Eyeliner aufzutragen. Kurz nachdem ich in die Kabine gegangen war, hörte ich, wie sie die Toilette verließ; nahm daher an, ich wäre allein dort. Doch als ich aus der Kabine trat, lehnte Clarke Reynolds, in Jeans und einem
Truth Squad
- T-Shirt , am Waschbecken.
»Hi«, sagte sie. Instinktiv wollte ich mich umdrehen und einen Blick hinter mich werfen, was bescheuert und außerdem richtig dumm war. Schließlich konnte ich im Spiegel sehen, dass sich außer uns niemand im Raum befand.
»Hey«, antwortete ich.
Ging um Clarke herum zum nächsten Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf. Spürte ihren Blick auf mir ruhen, während ich meine Hände nass machte und am Seifenspender pumpte, der wie immer leer war.
»Alles klar bei dir?«
Wieder fiel mir auf, dass sie kein bisschen mehr durch die Nase sprach. Ich stellte das Wasser ab. »Was?«
Clarke rückte ihre Brille zurecht. »Ehrlich gesagt, frage nicht nur ich mich das«, sagte sie. »Ich meine, ich stelle dir jetzt gerade konkret die Frage, klar. Nur, Owen beschäftigt das auch.«
Owens Namen aus ihrem Mund zu hören, fühlte sich so schräg an, dass mein Verstand eine Weile brauchte, um hinterherzukommen. »Owen«, wiederholte ich.
Sie nickte. »Er ist …« – sie hielt kurz inne – »... besorgt. Ja, so könnte man es ausdrücken.«
»Meinetwegen?«, fragte ich um der Klarheit willen vorsichtshalber nach.
»Ja.«
Irgendetwas stimmte hier nicht. »Owen hat dich gebeten, mit mir zu reden?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Er hat mir gegenüber nur ein paarmal so was in der Art erwähnt, dadurch kam ich ins Grübeln … Und dann habe ich gesehen, wie du heute nach der Mittagspause aus der Bibliothek kamst. Du sahst total verstört aus.«
Möglicherweise lag es daran, dass sie Owen erwähnt hatte, war das der Auslöser; vielleicht dachte ich aber auch unbewusst, dass ich – was Clarke und mich betraf – an diesem Punkt eigentlich wirklich nicht mehr viel zu verlieren hatte. Jedenfalls, warum auch immer – ich entschied mich, ehrlich zu sein. »Das wundert mich«, sagte ich. »Dass es dich interessiert, wie es mir geht. Ob ich durcheinander bin oder so.«
Sie biss sich kurz auf die Lippen. Und plötzlich stand mir wieder vor Augen, wie sie das früher Millionen Male getan hatte. Diese Reaktion war ein untrügliches Zeichen dafür, dass Clarke von irgendetwas – in dem Fall meiner Bemerkung – kalt erwischt wurde. »Glaubst du das wirklich?«, fragte sie. »Dass ich
dich
nicht leiden kann?«
»Du kannst mich nicht mehr ausstehen seit dem Sommer, als das mit Sophie passiert ist.«
»Ach komm, Annabel. Du warst diejenige, die mich hat abblitzen lassen, weißt du nicht mehr?«
»Ja, schon, aber –«
»Ja, schon, aber was? Du kannst
mich
nicht leiden, Annabel, so rum läuft das.« Clarkes Stimme klang ganz gelassen, gleichmütig,
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