Just Listen - Roman
Regalreihen liefen. Emily vernahm sie natürlich ebenfalls und wandte sich in Richtung der Geräusche um, bis sie leiser wurden und schließlich ganz aufhörten. Sofort schnappte Emily sich einen Stuhl, der in der Nähe stand, schob ihn dichter an mich heran, setzte sich. Ihre Stimme erstarb zu einem Flüstern: »Du hast sicher mitgekriegt, was passiert ist. Was Will mir angetan hat.«
Sie war mir so nah, dass ich ihr Parfüm riechen konnte. Etwas Fruchtig-Blumiges.
»Danach fing ich an, über dich nachzudenken.« Ihre grünen Augen ruhten unverwandt auf mir. »Und über die Party vor den letzten Sommerferien.«
Ich hörte mich atmen, sie mich vermutlich ebenfalls. Die Bäume im Fenster hinter ihr bewegten sich leicht im Wind; ein Sonnenstrahl, in dem Staubpartikel tanzten, leuchtete flüchtig über den Bücherregalen auf.
»Du brauchst nicht weiter mit mir darüber zu reden«,sagte Emily. »Mir ist schon klar, dass du mich nicht mehr ausstehen kannst.«
Sofort fiel mir Clarke ein. Wie sie im
Bendo
auf ihrem Stuhl saß, zu mir hochblickte.
Das glaubst du?
, antwortete sie, nachdem ich zu ihr dasselbe gesagt hatte.
»Mir geht es um Folgendes«, fuhr Emily fort, »falls etwas passiert ist … das Gleiche wie mit mir, dann könnte es allen helfen. Damit es aufhört, meine ich. Damit
er
aufhört. Endlich gestoppt wird.«
Ich hatte immer noch keinen Ton gesagt. Schaffte es einfach nicht. Saß völlig regungslos da. Emily zog eine kleine weiße Karte aus ihrer Jeanstasche.
»Hier sind Name und Telefonnummer der Frau, die meinen Fall bearbeitet.« Sie hielt mir die Visitenkarte entgegen. Da ich sie jedoch nicht nahm, legte Emily sie mit der Schrift nach oben neben meinen Ellbogen auf den Tisch. In der oberen linken Ecke war ein Siegel aufgedruckt, der Name stand in schwarzen Buchstaben darunter. »Das Verfahren wird am Montag eröffnet, aber es ist noch nicht zu spät, mit denen zu reden. Beziehungsweise sie nehmen jede Aussage auf, die kommt. Du könntest sie anrufen und ihr erzählen … nur, was du möchtest natürlich. Die Frau ist echt nett.«
Reden. Alles erzählen. Aus Emilys Mund klang das so einfach. Wohingegen es mir mehr Angst gemacht hatte als alles andere. Nur deswegen war ich Owen gegenüber nicht ehrlich gewesen, hatte ihm verschwiegen, was mich an jenem Abend bei dem Konzert im
Bendo
wirklich quälte. Wenn ich es nicht einmal schaffte, mich ihm anzuvertrauen, dem einzigen Menschen, von dem ich annahm, er könnte die Wahrheit verkraften – wie konnte man dann im Ernst von mir erwarten, dass ich mich einer Fremdengegenüber öffnen würde? Nie im Leben. Selbst wenn ich gewollt hätte. Was aber nicht der Fall war.
»Denk einfach drüber nach.« Emily atmete ein, als wollte sie noch etwas hinzufügen. Ließ es aber. Stand stattdessen auf. »Bis die Tage, okay?«
Sie schob den Stuhl an seinen Platz zurück, ging in Richtung Regale. Drehte sich nach ein paar Schritten allerdings noch einmal zu mir um. Sah mich an. »Und außerdem, Annabel – es tut mir leid.«
Die Worte hingen eine Weile zwischen uns in der Luft. Dann wandte sie sich ab, verschwand bei der letzten Kabine in der Reihe um die Ecke.
Es tut mir leid.
Dasselbe hatte ich ihr auch sagen wollen, längst, schon seit jenem Samstagabend auf der Modenschau. Und begriff überhaupt nicht, wofür sie sich nun bei mir entschuldigte.
Doch während ich mir noch das Hirn zermarterte, um die Logik dahinter zu entdecken, konnte ich plötzlich überhaupt nicht mehr denken, weil ich nur noch fühlte. Eine intuitive, geradezu körperliche Reaktion auf das, was soeben passiert war: Dass Emily nämlich der Wahrheit nähergekommen war als irgendjemand sonst bisher. Meiner Wahrheit. Prompt kam es mir hoch. Hektisch blickte ich mich nach einer Möglichkeit um, mich spontan und diskret übergeben zu können. Doch dann geschah etwas völlig anderes: Ich fing an zu weinen.
Weinen. Wirkliches, echtes Weinen, wie ich es seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Totales, hemmungsloses Schluchzen, das einen umhaut wie Brandung und mitzieht, runterzieht – so unvermittelt kamen mir die Tränen. Schluchzer stiegen unaufhaltsam meinen Hals hoch, meine Schultern bebten. In dem kläglichen Versuch, mich irgendwie zu verstecken, drehte ich mich unbeholfen um. Stießdabei mit dem Ellbogen an die dünne Kabinenwand, sodass die Visitenkarte, die Emily mir dagelassen hatte, auf den Boden fiel. In der Luft drehte sie sich mehrmals um sich selbst, landete schließlich
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