Just Listen - Roman
her verschieden und unverwechselbar waren. Whitney war eine natürliche Schönheit mit perfekten Wangenknochen und faszinierenden, geheimnisvollen Augen. Kirsten hingegen wirkte eher durch ihre Ausstrahlung; sie kriegte es irgendwie hin, ihre übersprudelnde Persönlichkeit in einen einzigen Blick zu legen. Entsprechend kam Whitney auf Fotos besser rüber, während Kirsten vor einer Fernsehkamera aufblühte, einen förmlich umhaute. Und so weiter.
Deshalb war meine Familie, als ich schließlich ebenfalls mit dem Modeln anfing, in unserer Gegend schon relativ bekannt. Bei den Jobs, die wir bekamen, ging es in der Regel entweder um Anzeigen für Kaufhäuser und Discounter oder um Werbespots für örtlich ansässige Firmen und Geschäfte, die entsprechend vor Ort produziert wurden. Mein Vater verhielt sich, wenn es um unsere Arbeit ging, genauso wie bei allem anderen, das auch nur ansatzweise mit Mädchenkram zu tun hat (von Tampons bis zu gebrochenenHerzen): Er hielt sich tunlichst raus. Meine Mutter dagegen genoss es. Sie kutschierte uns liebend gern durch die Gegend, telefonierte mit Lindy, um Auf- und Verträge auszuhandeln, achtete darauf, dass die Fotos in unseren Mappen aktuell blieben. Aber wenn man sie auf das Thema Modeln ansprach, beeilte sie sich immer zu betonen, es sei unsere Entscheidung, nicht ihre. »Wenn sie lieber im Sandkasten säßen und Schlammkuchen backen würden, wäre ich genauso glücklich.« Den Satz habe ich bestimmt eine Million Mal von ihr gehört. »Aber sie möchten eben modeln, also tun sie es.«
Ich denke, tief innen war sie genauso begeistert vom Modeln wie wir, auch wenn sie es nie zugegeben hätte. Nein, im Grunde ging es über bloße Begeisterung hinaus, glaube ich. In gewisser Weise hat es ihr wahrscheinlich das Leben gerettet.
Zu Anfang natürlich nicht. Zu Anfang waren unsere Model-Jobs ein Hobby für sie gewesen, das ihr Spaß machte und ihr die Zeit vertrieb, wenn sie nicht gerade in der Firma meines Vaters am Telefon saß. Einer unserer Familienwitze war, dass die Firma meines Vaters wohl der fruchtbarste Ort auf diesem Planeten sei, denn alle seine Sekretärinnen wurden unweigerlich irgendwann schwanger. Deshalb musste meine Mutter häufig in Vertretung die Stellung halten, bis er Ersatz gefunden hatte. Aber in dem Jahr, als ich neun wurde, starb meine Großmutter. Und dadurch veränderte sich etwas.
Ich kann mich nicht besonders gut oder genau an meine Großmutter erinnern; was ich weiß, basiert eher auf Fotos und Geschichten als auf tatsächlichen Ereignissen. Meine Mutter war ein Einzelkind und hatte ihrer Mutter sehr nahegestanden, obwohl sie an den entgegengesetzten Ränderndes Kontinents lebten und einander nur wenige Male im Jahr sahen. Aber sie telefonierten täglich miteinander, in der Regel, wenn meine Mutter am späteren Vormittag ihre zweite Runde Kaffee trank. Man hätte die Uhr danach stellen können. Denn wenn man um halb elf in die Küche kam, saß sie auf ihrem Stuhl, Blickrichtung Fenster, den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, und rührte einen Löffel Milchweißer in ihren Kaffee. Mir kamen diese Telefonate sterbenslangweilig vor. Es ging um Leute, die ich nicht kannte, oder was meine Mutter am Vorabend gekocht hatte; sogar mein eigenes Leben hörte sich auf einmal, wenn so darüber berichtet wurde, entsetzlich eintönig an. Für meine Mutter war das anders. Lebensnotwendig. Wie notwendig, begriffen wir erst nach dem Tod meiner Großmutter.
Meine Mutter war ohnehin nie das gewesen, was man einen Kraftprotz nennt. Eine stille, sanfte Frau mit einem gütigen Gesicht – die Art Mensch, der man sich intuitiv zuwenden würde, wenn man irgendwo auf der Straße oder an sonst einem öffentlichen Ort ist und es wäre gerade etwas Schlimmes passiert. Jemand, dessen bloßer Anblick einen spontan beruhigen würde. Darauf hatte ich mich bei ihr immer verlassen, ging also fest davon aus, dass es auch weiter so sein würde. Umso eigenartiger war es daher, wie sie sich in den Wochen nach der Beerdigung meiner Großmutter veränderte. Sie wurde einfach … noch stiller. Wirkte – vor allem im Gesicht – so erschöpft, geradezu gezeichnet, dass es selbst mir mit meinen neun Jahren auffiel. Zunächst versicherte uns mein Vater, so etwas sei völlig normal, wenn ein Mensch trauere; meine Mutter sei bloß müde, aber kein Grund zur Sorge, irgendwann werde sie sich wieder besser fühlen. Doch die Zeit verging und siefühlte sich nicht besser.
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