Just Listen - Roman
Stattdessen blieb sie morgens immer länger im Bett liegen, bis sie schließlich oft überhaupt nicht mehr aufstand. Wenn sie es dann doch einmal tat und ich morgens um halb elf in die Küche kam, saß sie auf demselben Stuhl, einen leeren Kaffeebecher in Händen, und starrte aus dem Fenster.
»Mama«, sagte ich dann. Und weil sie nicht antwortete, noch einmal: »Mama.« Manchmal musste ich es sogar ein drittes Mal wiederholen, bevor sie endlich begann, den Kopf zu drehen. Aber wenn sie es dann tat, bekam ich auf einmal Angst, so als wollte ich plötzlich ihr Gesicht lieber gar nicht mehr sehen. Als hätte sie sich innerhalb dieser wenigen Augenblicke
noch
einmal verändert, wäre tiefer in sich versunken und dadurch noch mehr zu jemandem geworden, den ich nicht mehr wiedererkannte.
Meine Schwestern konnten sich an diese Phase besser erinnern, denn sie waren älter und kriegten dementsprechend mehr mit, was los war. Jede von ihnen hatte – typisch – ihre eigene Art und Weise, damit klarzukommen. An Kirsten blieb plötzlich der halbe Haushalt hängen; sie räumte auf oder machte unsere Lunchpakete, wenn meiner Mutter nicht danach war. Und Kirsten regelte das mit ihrem üblichen Elan, als wäre eigentlich alles in Ordnung. Whitney dagegen stand oft vor der angelehnten Schlafzimmertür, lauschte angestrengt oder spähte ins Zimmer. Allerdings ging sie immer sofort weg, wenn ich vorbeikam, und wich meinen fragenden Blicken aus. Als Jüngste war ich unsicher, wie ich reagieren sollte; deshalb versuchte ich vor allem, mich ruhig zu verhalten, keinen Ärger zu machen, nicht zu viele Fragen zu stellen.
Bald bestimmte das Befinden unserer Mutter unser Leben. Wie ein Barometer, an dem wir ablasen, wie der Tagwerden würde. Im Grunde hing alles von dem ersten Eindruck ab, den man morgens von ihr erhielt. Wenn sie zu einer normalen Zeit aufstand, sich anzog, schminkte und Frühstück machte, war alles okay und der Tag auch. Aber wenn sie nicht auftauchte, sondern stattdessen mein Vater in der Küche sein Bestes gab, Cornflakes mit kalter Milch oder Toast servierte, oder – noch schlimmer – wenn gar keiner von beiden zum Frühstück erschien, wusste ich: Das wird kein guter Tag. Vielleicht ein etwas primitives System zur Stimmungsmessung, aber es funktionierte, zumindest halbwegs. Mir blieben ohnehin nicht viele andere Möglichkeiten der Orientierung.
»Eure Mutter fühlt sich nicht besonders gut.« Mehr sagte mein Vater nie, wenn wir ihn, um den Esstisch versammelt, nach ihr fragten. Wenn an ihrem Platz eine fühlbare Lücke klaffte. So lautete seine Standardantwort, selbst dann, als sie ganze Tage nicht mehr aus ihrem Zimmer kam und wir nichts von ihr sahen als eine formlose Gestalt unter der Bettdecke, überdies kaum erkennbar in dem Dämmerlicht, das durch die geschlossenen Jalousien drang. »Wir müssen einfach so gut wie möglich versuchen, ihr das Leben nicht schwerer zu machen als nötig, bis es ihr wieder besser geht, okay?«
Ich weiß noch, dass ich dann jedes Mal nickte. Meine Schwestern ebenfalls. Aber
wie
wir das anstellen sollten, stand auf einem anderen Blatt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr das Leben erleichtern sollte. Ob es vielleicht sogar an mir lag, dass es so schwer geworden war? Aber eins kapierte ich: Wir mussten meine Mutter unbedingt vor jeder unnötigen Aufregung bewahren, obwohl ich nicht einmal genau wusste,
was
sie aufregte. Deshalb lernte ich nochein System: Wenn man nicht genau weiß, wie man reagieren soll, reagiert man am besten gar nicht. Zieht sich zurück, außer Hörweite, sogar außerhalb des Hauses, sofern es sein muss. Selbst wenn das bedeutet, dass man was auch immer für sich behält, in sich einkapselt.
Niemand erklärte mir, an was für einer Krankheit meine Mutter nun genau litt, was es nicht eben einfacher machte; jedenfalls hatten diese Depressionen oder depressiven Schübe oder was immer es eben war, bereits drei Monate angedauert, als mein Vater sie endlich davon überzeugen konnte, einen Therapeuten aufzusuchen. Zuerst ging sie nur sehr widerwillig hin, brach das Ganze auch nach ein paar Sitzungen wieder ab. Doch kurze Zeit später unternahm sie einen neuen Anlauf und dann klappte es. Sie hielt ein ganzes Jahr durch, allerdings zunächst ohne sichtbaren Erfolg. Und dennoch: Als ich eines schönen Tages gegen halb elf in die Küche kam, stand sie auf einmal da, munter und fröhlich, als hätte sie bloß darauf gewartet, dass ich kommen und sie in
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