Just Listen - Roman
diesem – neuen – Zustand sehen würde. Bis zu dem Moment jedoch war es ein extrem langsamer Prozess gewesen, eine unmerkliche, ganz allmähliche Entwicklung, Schrittchen für Schrittchen. Wie bei einer Schnecke, die täglich nur millimeterweise vorankommt, sodass man ihre Fortschritte lediglich mit zeitlichem Abstand wahrnimmt. Zuerst lag sie nicht mehr den ganzen Tag im Bett. Dann stand sie bereits am Vormittag auf. Bis sie uns schließlich sogar ab und an Frühstück machte. Ihr Schweigen, das – beim Essen immer, aber auch sonst oft – auf uns lastete, wurde langsam weniger bleiern, weniger intensiv: Eine kleine Plauderei hier, ein kurzer Kommentar dort …
Am Ende war es allerdings das Modeln, das mich davonüberzeugte: Wir hatten das Schlimmste hinter uns. Da meine Mutter diejenige war, die uns Jobs verschaffte und mit Lindy Termine oder Castings verabredete, hatten wir alle, seit sie krank geworden war, viel weniger zu tun. Zwar fuhr mein Vater Whitney zuerst noch zu einigen Auftritten und ich hatte ein Shooting, das schon seit Langem geplant gewesen war. Doch letztlich kam alles, was mit Modeln zusammenhing, quasi zum Stillstand. Bis Lindy schon automatisch davon ausging, dass wir absagen würden. So bestimmt auch an jenem Abend, als sie während des Essens anrief, um uns über einen Vorstellungstermin zumindest zu informieren.
»Ja, das lassen wir besser«, sagte mein Vater in den Hörer und warf einen Blick zu uns am Tisch herüber, bevor er sich mit dem Telefon Richtung Küche zurückzog. »Ich denke, der Zeitpunkt ist momentan nicht so günstig.«
Kirsten kaute gerade auf einem Stück Brot herum. »Nicht so günstig wofür?«
»Für einen Job«, meinte Whitney tonlos. »Warum sonst sollte Lindy beim Abendessen anrufen?«
Mein Vater kramte derweil in der Schublade bei der Telefonaufladestation herum, bis er endlich einen Stift fand. »Also gut.« Er griff nach einem Notizblock. »Ich notiere es mal, aber sehr wahrscheinlich … – Ja, schon gut. Wie war gleich die Adresse?«
Meine Schwestern beobachteten ihn, während er etwas hinkritzelte. Höchstwahrscheinlich grübelten sie heftig darüber nach, für was der Job wohl war. Und für wen. Doch ich sah zu meiner Mutter hinüber, deren Blick ebenfalls unverwandt auf meinem Vater ruhte, während sie ihre Serviette vom Schoß nahm, um sich die Mundwinkel abzutupfen. Als mein Vater wieder ins Esszimmer kam, sich aufseinen Platz setzte und seine Gabel in die Hand nahm, erwartete ich eigentlich, dass meine Schwestern ihn sofort mit Fragen bestürmen würden.
Stattdessen war es meine Mutter, die als Erste das Wort ergriff: »Worum ging es da gerade?«
Mein Vater blickte sie an. »Nur um ein Casting morgen. Lindy dachte, wir hätten vielleicht Interesse.«
»Wir?«, fragte Kirsten.
»Du.« Vater schob einige Bohnen auf seine Gabel. »Ich habe ihr allerdings gesagt, momentan passe es vielleicht nicht so gut. Es ist am Vormittag, da muss ich auf jeden Fall im Büro sein und …«
Er bemühte sich gar nicht erst, den Satz zu Ende zu sprechen. Nicht, dass es nötig gewesen wäre. Mein Vater war Architekt und hatte mit seiner Arbeit genug um die Ohren. Zudem kümmerte er sich um meine Mutter und hielt das Haus in Ordnung. Da musste er uns nicht auch noch durch die halbe Stadt kutschieren. Kirsten wusste das. Trotzdem war ihre Enttäuschung deutlich zu spüren. In der nun einsetzenden Stille, während wir alle wieder zu essen begannen, hörte ich plötzlich, wie meine Mutter tief durchatmete.
»Ich könnte sie bringen.« Wir starrten sie an. »Ich meine, wenn sie hin möchte.«
»Wirklich?«, fragte Kirsten. »Das wäre echt –«
Mein Vater unterbrach sie mit besorgter Stimme: »Grace, das brauchst du nicht.«
Kirsten lehnte sich resigniert auf ihrem Stuhl zurück.
»Ich weiß.« Ein Lächeln umspielte die Lippen meiner Mutter. Ein mattes Lächeln. Aber ein Lächeln. »Es wäre ja nur dieses eine Mal. Kein Problem, mache ich gern.«
Deshalb war meine Mutter am nächsten Tag – ich werdees nie vergessen – schon zum Frühstück auf den Beinen. Und als Whitney und ich zur Schule losgingen, brachen sie und Kirsten ebenfalls auf: zum Casting für den Werbespot einer Bowlingbahn in unserer Nähe. Kirsten bekam den Job. Es war weder ihr erster Spot noch etwas besonders Großartiges. Aber jedes Mal, wenn der Spot später im Fernsehen lief und ich Kirsten diesen grandiosen Strike werfen sah (natürlich nachträglich
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