Just Listen - Roman
wartete. Auf was, wusste ich nicht. Darauf, gerettet zu werden. Oder gefunden. Aber niemand kam. Ich hatte immer geglaubt, dass in Ruhe und allein gelassen zu werden, mein größter Wunsch wäre. Bis ich in Ruhe und allein gelassen wurde.«
Ich schluckte. Blickte auf meine Tasse, schlang meine Finger darum herum.
»Ich weiß nicht, wie lange ich da lag, bis meine Schwester zu mir kam. Mir ist im Gedächtnis, dass ich in den Himmel starrte, wo die Wolken vorbeizogen. Dann hörte ich auf einmal, wie sie meinen Namen rief, schlitternd neben mir abbremste. Sie war der letzte Mensch, den ich in diesem Moment sehen wollte. Und dennoch, wie so viele Male zuvor und danach, der Einzige, der da war.«
Whitney hielt inne, atmete tief durch.
»Sie half mir hoch und setzte mich auf ihre Lenkstange. Mir war völlig bewusst, dass ich ihr eigentlich dankbar sein sollte. Stattdessen war ich während der gesamten Heimfahrt wütend. Auf mich, weil ich gestürzt war. Auf sie, weil sie es mitbekommen hatte. Als sie mit mir in unsere Einfahrt radelte, kam meine jüngere Schwester, das Geburtstagskind,aus dem Haus gestürmt. Sobald sie mich mit meinem lose runterbaumelnden Arm sah, rannte sie wieder rein und rief nach unserer Mutter. Das war seit jeher ihre Rolle gewesen, als die Kleine. Sie hat immer alles erzählt.«
Ich erinnerte mich gut an die Situation. In jenem Moment hatte ich sofort begriffen, dass irgendetwas nicht stimmte. Und zwar, weil Kirsten und Whitney so eng beieinander waren, wie sonst nie.
»Mein Vater brachte mich zur Notaufnahme, wo man den Knochen richtete, den Arm eingipste. Als wir nach Hause zurückkehrten, war die Party fast vorbei. Die Geschenke waren bereits ausgepackt, die Geburtstagstorte wurde gerade serviert. Auf den Fotos, die an diesem Tag aufgenommen wurden, halte ich meinen einen Arm vor den eingegipsten anderen. Als ob ich dem Gips nicht zutrauen würde, mich beziehungsweise meinen gebrochenen Knochen zusammenzuhalten. Meine ältere Schwester, die Heldin, steht auf der einen Seite neben mir, meine jüngere, das Geburtstagskind, auf der anderen.«
Ich kannte das Bild natürlich auch: Ich, im Badeanzug, ein Stück Torte in der Hand; Kirsten stemmt eine Hand in die Hüfte, die sie kess ein wenig vorschiebt, und lächelt strahlend in die Kamera.
»Jahrelang sah ich, wenn ich mir diesen Schnappschuss anschaute, stets bloß meinen gebrochenen Arm. Erst später nahm ich auch andere Dinge wahr. Zum Beispiel, wie meine beiden Schwestern lächeln und sich mir zuwenden, während ich, wie immer, zwischen ihnen stehe.«
Whitney atmete erneut tief durch. Blickte auf ihre Aufzeichnungen.
»Es war nicht das erste Mal, dass ich vor meinen Schwesterndavongelaufen bin. Und nicht das letzte Mal, dass ich dachte, Alleinsein wäre auf jeden Fall die bessere Alternative. Ich bin immer noch die Schwester in der Mitte. Aber ich sehe das jetzt differenzierter. Es muss eine Mitte geben. Ohne Mitte kann nichts wirklich vollständig sein. Denn die Mitte ist nicht nur der Raum dazwischen, sondern auch das, was alles zusammenhält. Danke.«
Ich saß da, einen dicken Kloß im Hals, während um mich herum die Leute zu klatschen begannen. Erst vereinzelt, hier und dort, doch allmählich erfüllte der Applaus den ganzen Raum. Whitney wurde rot, legte eine Hand auf ihre Brust. Doch als sie nun hinter dem Mikrofon hervortrat, lächelte sie. Kirsten neben mir hatte Tränen in den Augen.
Als Whitney zu unserem Tisch zurückkehrte, nickten ihr die Leute, an denen sie vorbeilief, anerkennend zu. Ich war so stolz auf sie! Ich konnte mir nämlich absolut vorstellen, wie schwer es ihr gefallen sein musste, diesen Text laut vorzulesen. Nicht nur vor allen Fremden, sondern auch und vor allem vor uns beiden. Aber sie hatte es getan. Während ich meiner Schwester entgegenblickte, fragte ich mich, was letztlich schwerer war. So etwas überhaupt offen auszusprechen? Oder wem gegenüber man es aussprach? Aber vielleicht zählte ja am Ende, wenn es endlich raus war, doch nur die Geschichte selbst.
Kapitel 17
Der Digitalwecker neben meinem Bett zeigte in glänzend roten Ziffern 0:15. Was bedeutete, dass ich – meiner Berechnung zufolge – schon seit drei Stunden und acht Minuten versuchte einzuschlafen.
Seit Whitney ihre Geschichte in dem Café vorgelesen hatte, wurde ich von allem, was zu verdrängen ich mich bemüht hatte, auf einmal regelrecht verfolgt: dass Owen und ich nichts mehr miteinander zu tun hatten, Emily mir die
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