Just Listen - Roman
einmal halb fertig –«
»Kein Problem.« Sie stand auf, krempelte die Ärmel hoch, verscheuchte Kirsten und mich von der Spüle. Ichblickte zu Whitney hinüber, die im Türbogen stand. Keine Ahnung, wie ich da hineingeraten war. Aber jetzt steckte ich mittendrin. »Jetzt fahrt schon los.«
»Hallo und willkommen bei
Jump Java
. Heute ist wie jede Woche Nacht der langen Messer, pardon, des für alle frei zugänglichen Mikrofons. Ich heiße Esther und bin Kummerkasten, Moderatorin, Wachhund, alles in einer Person. Falls ihr schon mal bei uns wart, kennt ihr ja die Regeln. Schreibt euch hinten auf die Liste, haltet möglichst die Klappe, wenn vorne jemand liest, und – ganz wichtig – vergesst das Trinkgeld für den Mann an der Kaffeebar nicht. Vielen Dank und viel Spaß!«
Bei unserer Ankunft dachte ich im ersten Moment, wir wären zufällig in diese Veranstaltung hineingeraten. Doch als Whitneys Freunde aus ihrer Therapiegruppe uns zu sich winkten, wurde mir schnell klar: nix mit Zufall.
»Alles klar? Bist du gut vorbereitet?«, sagte ein Mädchen namens Jane zu Whitney, nachdem wir unseren Kaffee bekommen hatten und einander vorgestellt worden waren. Jane war groß und dünn – sehr dünn – und trug einen roten Pullover mit Vordertasche, aus der eine Zigarettenschachtel herausragte. »Und, noch viel wichtiger: Bist du nervös? Aufgeregt?«
»Whitney regt sich wegen gar nichts auf«, sagte Heather, das andere Mädchen. Sie war ungefähr in meinem Alter, hatte kurze schwarze Haare, eine Stachelfrisur und eine Vielzahl von Piercings in Nase und Lippen. »Das weißt du doch.«
Kirsten und ich wechselten einen Blick. »Weshalb solltest du nervös sein?«, fragte Kirsten Whitney, die neben mir saß und in ihrer Handtasche herumkramte.
»Wegen ihrer Lesung.« Jane nahm einen Schluck aus ihrem Kaffeebecher, der vor ihr auf dem Tisch stand. »Sie hat sich für heute Abend angemeldet.«
»Sie musste sich anmelden«, fügte Heather hinzu. »Eine Moira-Ansage.«
»Moira-Ansage?«, wiederholte ich.
»Hat was mit unserer Gruppe zu tun.« Whitney zog ein paar zusammengefaltete Blatt Papier aus ihrer Handtasche, legte sie vor sich auf den Tisch. »Eine Art Auftrag. Moira gehört zu meinen Therapeuten.«
»Ach so«, sagte Kirsten. »Alles klar.«
»Du liest also etwas vor, das du geschrieben hast?«, fragte ich. »Sozusagen etwas Autobiografisches?«
Whitney nickte. »Ja, so ungefähr.«
»Okay, wir legen jetzt los«, verkündete Esther. »Als Erster heute Abend ist Jakob dran. Hallo, Jakob.«
Allgemeiner Applaus. Ein großer, dürrer Junge mit schwarzer Strickkappe auf dem Kopf schlängelte sich auf seinem Weg zum Mikrofon durch die Tische. Er schlug ein schmales Spiralheft auf. Räusperte sich.
»Mein Text hat den Titel ›Ohne Titel‹.« Hinter uns zischte die Espressomaschine. »Es geht … äh, um meine Exfreundin.«
Das Gedicht, das er nun vortrug, begann ganz sachte mit Impressionen über Tageslicht und Träume, wurde jedoch rasch heftiger, aufgewühlter, vehementer, seine Stimme zunehmend lauter, bis er uns im Grunde nur noch stakkatohaft aneinandergereihte Worte entgegenschleuderte, unerbittlich, eins nach dem anderen: »Metall, Kälte, Betrug, Unendlichkeit!« Ab und zu flog etwas Spucke in hohem Bogen über das Mikro hinweg. Ich sah zu Whitneyhinüber, die sich auf die Lippen biss. Dann zu Kirsten, die wie gebannt zuhörte.
»Was soll das denn werden?«, flüsterte ich.
»Psst«, war alles, was ich zur Antwort erhielt.
Eine Menge Zeit schien vergangen zu sein, bevor Jakobs Gedicht schließlich mit einer Serie langer, atemloser Keucher abschloss. Als er fertig war, saßen wir alle noch einen Moment lang überwältigt da, bevor wir kollektiv beschlossen, dass Klatschen jetzt wohl nicht mehr unpassend wäre.
»Wow«, sagte ich zu Heather. »Das war ja irre.«
»Das war gar nichts«, erwiderte sie. »Du hättest letzte Woche hier sein müssen. Da hat er sich zehn Minuten lang über Kastration ausgelassen.«
»Ekelhaft«, fügte Jane hinzu. »Faszinierend, aber ekelhaft.«
»Als Nächstes tritt jemand auf, der zum ersten Mal hier vorliest«, sagte Esther. »Applaus für Whitney, bitte.«
Jane und Heather fingen laut an zu klatschen, Kirsten und ich stimmten sofort mit ein. Als Whitney nach vorne zum Mikrofon ging, nahm ich deutlich wahr, wie das Publikum auf sie reagierte. Die Leute wandten neugierig den Kopf, viele sahen gleich zweimal hin, konnten kaum glauben, was
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