Just Listen - Roman
ich mich tatsächlich selbstständig erinnerte, da über diesen Tag mittlerweile so vieles neu und aus anderen Blickwinkeln erzählt worden war. Was wusste ich wirklich noch definitiv? Ich hatte Geburtstag, es gab Torte, ich rannte zu meiner Mutter, um ihr zu erzählen, dass Whitney sich wehgetan hatte. Aber bei allem anderen war ich mir unsicher.
Auch beim Abendessen blieb ich Zuschauerin, beobachtete meine Familie unauffällig. Kirsten erzählte von ihren Kommilitonen aus dem Filmkurs, anscheinend alles eher extreme Typen; Whitney erklärte bis ins Detail, wie die Sushi-Rollen, an denen sie den ganzen Nachmittag über gewerkelt hatte, zusammengesetzt waren; meine Mutter lachte viel und hatte vor lauter Begeisterung richtig gerötete Wangen. Sogar mein Vater wirkte entspannt und unverkennbar glücklich darüber, dass sich die Dinge zum Guten gewendet und dadurch die Stimmung in unserer Familie so verbessert hatten. Was ja auch wirklich toll war. Dennoch fühlte ich mich auf sonderbare Art abgekoppelt. Ausgeschlossen. Fast, als wäre ich jetzt eins der Autos auf der Straße dort draußen, deren Fahrer abbremsten, um zu uns hereinzuschauen. Mit denen uns nichts verband außer einer gewissen räumlichen Nähe. Und möglicherweise nicht einmal das.
Ich klappte die Bettdecke zurück, stand auf, ging zur Tür, öffnete sie leise. Der Flur lag im Dunkeln, es war still im Haus, aber wie ich mir schon gedacht hatte, sah man Licht von unten durchs Treppenhaus dringen. Mein Vater war also noch wach.
Als er mich ins Wohnzimmer kommen sah, stellte er sofort den Fernseher leise. »Na, kannst du nicht schlafen?«
Ich schüttelte den Kopf. Über den Bildschirm flimmerten stumm die körnigen Schwarz-Weiß-Bilder einer alten Dokumentation: Zwei Männer schüttelten einander über einen Tisch hinweg die Hand, eine Menschenmenge hinter ihnen klatschte Beifall.
»Du kommst gerade richtig, um mir bei einer Entscheidung zu helfen. Entweder ich schaue mir diesen ziemlich spannenden Dokumentarfilm über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs an oder eine Sendung auf
Arts & Entertainment
über die große Dürre im Mittleren Westen während der Depression. Was meinst du?«
Dabei schaltete er auf einen anderen Kanal um. Nun sah man auf dem Fernsehbildschirm eine trostlose Landschaft, durch die langsam ein Auto fuhr. »Keine Ahnung.« Ich zwinkerte ihm zu. »Klingt beides gleich verlockend.«
»He, auf Geschichte lasse ich nichts kommen. Ist wirklich wichtig.«
Ich lächelte, ging zur Couch, setzte mich. »Weiß ich doch. Ist bloß schwer, sich dafür zu begeistern. Jedenfalls für mich.«
»Wie kannst du dich dafür nicht begeistern? Geschichte ist real. Konkret. Kein Firlefanz, den sich irgendwer ausgedacht hat. Das alles ist wirklich passiert.«
»Vor langer Zeit.«
»Genau!« Er nickte eifrig. »Denn das ist der springende Punkt: Wir dürfen nichts vergessen. Ganz gleichgültig, wie viel Zeit seitdem vergangen ist, diese Ereignisse von früher beeinflussen uns und die Welt, in der wir leben, bis heute. Wenn du der Vergangenheit keine Aufmerksamkeit schenkst, wirst du die Zukunft nie verstehen. Das hängt alles miteinander zusammen. Verstehst du, was ich meine?«
Zuerst verstand ich gar nichts mehr. Doch als ich jetzt noch einmal auf den Bildschirm blickte, über den die Bilder hinwegflackerten, begriff ich auf einmal, dass er recht hatte. Die Vergangenheit beeinflusste die Gegenwart und die Zukunft sichtbar –
und
unsichtbar, auf millionenfache Weise. Man konnte die Zeit nicht einfach in voneinander unabhängige Abschnitte unterteilen. So etwas wie eine konkrete Mitte, Anfang, Ende existierten nicht. Ich konnte zwar so tun, als würde ich die Vergangenheit hinter mir lassen; loslassen würde sie mich jedoch nie.
Während ich so bei meinem Vater saß, merkte ich plötzlich, dass mir immer beklommener zumute wurde, obwohl ich versuchte, mich ausschließlich auf die Fernsehbilder zu konzentrieren. Meine Gedanken überschlugen sich derart, dass ich kaum denken konnte. Deshalb kehrte ich ein paar Minuten später in mein Zimmer zurück.
Das ist doch verrückt,
dachte ich, als ich wieder im Bett lag und an die Decke starrte. Aus den Zimmern meiner Schwestern rechts und links von mir drang kein Laut. Ich schloss die Augen. Die Ereignisse der letzten Tage schossen mir in Schnipseln und Fetzen durch den Sinn. Mein Herz klopfte. Etwas ging hier vor, das ich nicht verstand. Oder nicht verstehen konnte. Ich setzte mich wieder auf, warf die
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