Just Listen - Roman
gleich wieder ausgekotzt. Was für ein ätzender Tag!
Meine Mutter nahm mein Make-up-Täschchen, kramte darin herum, zog festen Lidschatten und meinen Puder heraus. »Whitney, gibst du uns bitte die Kleider nach hinten?«
Whitney stöhnte entnervt auf, drehte sich um, langte nach den Blusen und T-Shirts , die hinter ihr über Bügeln an einem Haken der Autotür hingen. »Da«, sagte sie knapp und hob das Ganze so gerade eben über den Rücksitz, unerreichbar für meine Mutter, obwohl sie beide Hände danach ausstreckte. Deshalb drehte ich mich um, wollte die Sachen nur schnell entgegennehmen. Doch als sich meine Finger um die Bügel schlossen, hielt Whitney sie einen Augenblick lang fest, bevor ich sie wieder zurückziehen konnte. Ihr Griff war erstaunlich kraftvoll. Unsere Blicke trafen sich. Dann ließ sie los, wandte sich wieder ab.
Ich
wollte
ja Geduld mit meiner Schwester haben. Versuchte mir immer wieder zu vergegenwärtigen, dass – wie beispielsweise in Momenten wie diesem – ich eigentlich nicht auf sie sauer war, sondern auf ihre Essstörung. Aber manchmal fiel es echt schwer, den Unterschied zu erkennen. Dann war ich eben doch sauer auf Whitney. Weil Whitney einem auch allen Grund dazu gab. Whitney,
nicht
ihre Essstörung.
»Hier, trink ein bisschen Wasser.« Meine Mutter reichte mir eine bereits geöffnete Flasche, während sie mir die Blusen abnahm. »Und schau mal her zu mir.«
Ich nahm einen Schluck und hielt still, während sie mein Gesicht abpuderte. Schloss die Augen, lauschte den Geräuschen der Autos, die hinter uns die Schnellstraße entlangfuhren. Meine Mutter trug Lidschatten und Eyeliner auf, begann anschließend, in den Kleidern herumzustöbern. Die Bügel klapperten. Ich öffnete die Augen und bemerkte, dass sie prüfend ein pinkfarbenes Wildledertop vor mich hielt.
Schsch, Annabel. Ich bin’s bloß.
»Nein!«, sagte ich schärfer, als ich eigentlich wollte.Meine Stimme klang richtig harsch. Ich atmete tief durch, zwang mich dazu, so normal wie möglich weiterzusprechen. »Nicht dieses Top«, setzte ich hinzu.
Sie wirkte erstaunt. Blickte auf das Top. Zurück zu mir. »Bist du sicher? Es steht dir so gut. Außerdem dachte ich, es gehört zu deinen Lieblingsstücken.«
Ich schüttelte den Kopf. Wandte rasch den Blick von ihr ab, hin zu einem Minibus, der in diesem Moment an uns vorbeifuhr. An der Rückscheibe klebte einer dieser Angeberaufkleber: MEIN SOHN IST KLASSENBESTER – NA UND? »Nein«, wiederholte ich. Und weil sie mich immer noch aufmerksam betrachtete, fuhr ich fort: »Irgendwie sehe ich in dem Teil total daneben aus, finde ich.«
»Ach ja?« Doch sie reichte mir stattdessen ein blaues, weit ausgeschnittenes Oberteil. »Hier.« Als ich es genauer betrachtete, bemerkte ich, dass das Preisschild noch daranhing. »Schlüpf schnell rein, zieh dich um. Es ist zehn vor vier!«
Ich nickte, verließ meinen Platz auf der Stoßstange, ging um den Wagen zur hinteren Tür, öffnete sie. Stieg ein, duckte mich in die Sitze, um mein Oberteil auszuziehen. Erstarrte. »Mama?«
»Ja?«
»Ich habe keinen BH an.«
Ich hörte ihre Absätze auf dem Asphalt klappern, während sie um das Auto herumlief, zu mir. »Keinen BH?«
Ich schüttelte den Kopf, blieb so geduckt wie möglich sitzen. »Ich hatte ein Miedershirt an, da ist einer eingearbeitet.«
Meine Mutter überlegte kurz. »Whitney«, sagte sie schließlich, »gibst du –«
Whitney schüttelte den Kopf. »Vergiss es!«
Nun seufzte zur Abwechslung meine Mutter laut auf. »Schatz, bitte! Hilf uns jetzt aus, ja?«
Also mussten wir wieder einmal warten und bangen. Wegen Whitney. So wie wir ihretwegen in den vergangenen neun Monaten schon des Öfteren gewartet und gebangt hatten. Nach einer gefühlten Ewigkeit schob sie endlich die Arme unter ihre Bluse, fummelte dort herum, beförderte einen beigefarbenen BH ans Tageslicht, warf ihn einfach hinter sich. Ich fischte ihn vom Boden und zog ihn an. Wir hatten nicht exakt dieselbe Größe, aber immerhin – besser als nichts. Ich zog das blaue Top darüber. Mein »Danke« ignorierte Whitney natürlich.
»Es ist acht vor vier. Lass uns gehen, Schatz«, ließ sich meine Mutter vernehmen.
Ich stieg aus dem Wagen und ging zu ihr. Sie reichte mir meine Tasche, die sie für mich gehalten hatte, und betrachtete eingehend ein letztes Mal ihr Werk in meinem Gesicht. »Augen zu«, wies sie mich an, während sie vorsichtig ein Klümpchen Mascara aus meinen Wimpern zupfte. Als
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