Just Listen - Roman
Entlassung wollte sie zurück nach New York, aber meine Eltern bestanden darauf, dass sie erst einmal nach Hause kam; zumal die Ärzte eindringlich davor warnten, dass sie gleich wieder als Model arbeitete, denn eine Rückkehr auf den Laufsteg würde den Genesungsprozess gefährden, den bisherigen wie auch den zukünftigen. Das war im Januar. Seitdem nahm Whitney an einem ambulanten Reha-Programm teil, ging zweimal wöchentlich zum Therapeuten und hing den Rest der Zeit schlecht gelaunt bei uns daheim rum. Kirsten hatte unterdessen ihre Ankündigung wahr gemacht und sich bei einem New Yorker College eingeschrieben; gleichzeitig versuchte sie, ihre beiden Jobs mit dem Studium unter einen Hut zu bringen. Zu unser aller Überraschung – wenn man bedenkt, wie ungern sie zur Schule gegangen war – gefiel es ihr am College richtig gut. Jedes Wochenende rief sie überglücklich bei uns an und erzählte ohne Punkt und Komma und bis ins kleinste Detail von ihren Vorlesungen, was gerade Thema war, welche Seminare sie belegt hatte und so weiter. Wieder einmal schienen meine Schwestern auf zwei verschiedenen Planeten zu leben und sich gleichzeitig doch so zu ähneln: Beide fingen noch einmal von vorn an. Aber nur eine von beiden tat es freiwillig.
Über lange Phasen hinweg sah es tatsächlich so aus, als ginge es Whitney allmählich besser. Sie nahm zu. Schien auf einem guten Weg zu sein, Fortschritte zu machen.Doch dann wieder gab es Zeiten, in denen sie sich weigerte zu frühstücken. Oder wir sie dabei erwischten, wie sie mitten in der Nacht heimlich Sit-ups machte oder sonst wie trainierte, was streng verboten war. Nur die Angst davor, wieder zurück ins Krankenhaus zu müssen und zwangsernährt zu werden, hielt sie weiter bei der Stange. Doch egal, wie sich die Dinge bei Whitney entwickelten, in einem Punkt änderte sich gar nichts: Mit Kirsten sprach sie kein Wort mehr.
Nicht, wenn Kirsten anrief. Nicht einmal, als sie im Frühjahr übers Wochenende nach Hause kam. Zuerst war Kirsten verletzt. Dann wütend. Bevor sie es Whitney schließlich durch ihr eigenes Schweigen heimzahlte. Wir anderen befanden uns zwischen den Fronten und versuchten, die peinlichen, angespannten Pausen im Gespräch durch harmloses Geplauder zu übertünchen, was allerdings nicht darüber hinwegtäuschen konnte, wie peinlich und angespannt die Pausen tatsächlich waren. Schließlich beschloss Kirsten, vorerst überhaupt nicht mehr nach Hause zu kommen; dafür besuchten unsere Eltern sie ein paarmal in New York.
Es war grotesk. Als Kind hatte ich es gehasst, wenn meine Schwestern sich lauthals stritten. Aber dass sie nicht mehr miteinander redeten, war noch viel schlimmer. Die totale Funkstille zwischen ihnen dauerte nun bereits neun Monate – kein Ende abzusehen. Was vielleicht das Allerschlimmste daran war: dass es möglicherweise so bleiben würde. Es konnte einem regelrecht Angst machen.
Meine Schwestern hatten sich verändert. Beide. Es war offensichtlich und für uns alle deutlich spürbar, wie etwas, das man anfassen konnte, etwas nahezu Sinnliches. Die eine
sah
man, allerdings erst, wenn man unmittelbar vorihr stand; die andere hingegen
hörte
man – ob man wollte oder nicht – bereits, bevor sie in Sichtweite kam. Was mich anging, so befand ich mich exakt dort, wo ich seit eh und je gewesen war: irgendwo in der Mitte, zwischen den Stühlen.
Doch ich hatte mich ebenfalls verändert, selbst wenn ich es nicht in Worte fassen konnte. Ich war eine Andere geworden. Wie auch meine Familie anders war, als es nach außen hin den Anschein hatte, zum Beispiel in jener Nacht, als alles begann: Als wir fünf rund um den Tisch in unserem Glashaus saßen und zu Abend aßen, eine glückliche Familie. Schon damals waren wir anders gewesen als der Eindruck, den wir auf diejenigen machten, die draußen auf der Straße vorüberfuhren und zu uns hereinblickten.
Kapitel 4
In der ersten Woche nach den Ferien ignorierte Sophie mich völlig. Was ziemlich hart war. Bis sie schließlich doch anfing, wieder mit mir zu reden, worauf ich allerdings ziemlich schnell merkte, dass mir ihr Schweigen lieber gewesen war.
»Nutte!«
Stets war es nur dieses eine Wort. Ein Wort, unmissverständlich deutlich und mit so viel Gehässigkeit ausgesprochen, dass es mir jedes Mal einen Schlag in die Magengegend versetzte. Manchmal lauerte es mir von hinten auf, schwappte mir über die Schulter, und zwar todsicher genau dann, wenn ich nicht damit gerechnet
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