Just Listen - Roman
hatte. Dann wieder sah ich Sophie auf mich zukommen – und schon schleuderte sie es mir direkt ins Gesicht. Das Einzige, worauf ich mich verlassen konnte, war ihr perfektes Timing. Immer dann, wenn ich mich gerade etwas besser fühlte oder einen einigermaßen anständigen Moment an einem leidlich erträglichen Tag hatte, war sie zur Stelle und sorgte dafür, dass es nicht so blieb.
Wie auch jetzt, in diesem Augenblick. Mittagspause. Ich: auf der Mauer, wie jeden Tag seit Beginn des Schuljahrs. Sophie spazierte vorbei, Emily im Schlepptau (zu der Zeit wuselte Emily eigentlich permanent um sie herum).Ich blickte tunlichst nicht zu den beiden hinüber, sondern konzentrierte mich auf den Notizblock, der auf meinem Schoß lag. Geschichte – ich musste ein Referat für Geschichte vorbereiten. Soeben hatte ich das Wort OKKUPATION hingeschrieben, ließ nun meinen Stift weiter über das Papier gleiten, malte die beiden Os aus, bis sie zwei dunkel verschmierte Flecken und Sophie samt ihrem Schatten Emily an mir vorbeigegangen waren.
Mir kam in den Sinn, dass die Sache etwas von Karma hatte, auch wenn ich nicht groß darüber nachdenken mochte. Möglicherweise gibt es schon so etwas wie Karma oder Schicksal oder Bestimmung und dann beeinflusst es wohl auch mein Leben. Das Karmische bestand darin, dass es noch gar nicht so lang her war, dass
ich
hinter Sophie herdackelte, während sie ihre miesen Spielchen spielte. Dass ich diejenige gewesen war, die sich zwar selbst die Finger nicht schmutzig machte, Sophie aber auch nicht stoppte, sondern zuschaute, wie sie andere schikanierte und niedermachte. Wie zum Beispiel Clarke.
Während ich darüber nachdachte, blickte ich auf und sah mich auf dem Schulhof nach ihr um. Sie saß zusammen mit ein paar Freundinnen an einem der Picknicktische, am Ende der Bank. Vor ihr lag ein aufgeschlagenes Schulbuch. Während sie offensichtlich mit einem Ohr der Unterhaltung um sich zuhörte, blätterte sie in dem Buch. Dass sie an jenem ersten Tag nach den Ferien allein auf der Mauer gehockt hatte, war eindeutig ihre Entscheidung gewesen und nicht aus Mangel an Freunden geschehen. Seitdem war sie weder wieder in die Nähe der Mauer gekommen geschweige denn in meine.
Dafür war Owen Armstrong da. An der Mauer. Immer. Leute kamen und gingen, mal in Grüppchen, mal alleine.Doch nur er und ich kampierten jeden Tag in der Mittagspause dort. An unserer Mauer. Wobei wir wie selbstverständlich einen gewissen Abstand hielten: knapp zwei Meter, mal ein paar Zentimeter mehr, mal etwas weniger. Doch wer von uns beiden auch immer als Zweiter dort eintraf, achtete darauf, dass in etwa dieser Abstand gewahrt blieb, bevor er sich setzte. Es gab noch andere Dinge, die immer gleich blieben. Ihn sah ich nie etwas essen, während ich dank meiner Mutter stets jede Menge Zeugs dabeihatte. Er schien überhaupt nicht zu bemerken oder sich darum zu kümmern, was die Leute um ihn herum trieben. Ich hingegen war während der gesamten Mittagspause, die eine geschlagene Stunde dauerte, davon überzeugt, dass alle Welt mich anstarrte und/oder über mich redete. Ich machte Hausaufgaben. Er hörte Musik. Und wir sprachen nie ein Wort miteinander. Nie.
Vielleicht lag es daran, dass ich so viel Zeit allein mit mir verbrachte. Oder dass selbst die komplizierteste Hausaufgabe nicht eine ganze Mittagspause in Anspruch nehmen kann, so endlos sie sich auch dahinziehen mag. Wie auch immer – Owen Armstrong fing jedenfalls irgendwie, irgendwann an, mich regelrecht zu faszinieren. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, begann mir jeden Tag etwas anderes an seiner Erscheinung oder seinen Gewohnheiten einzuprägen. Was sich zu einer gewissen Routine entwickelte und dazu führte, dass ich auf die Dauer so einiges über ihn herausfand. Ohne dass wir je ein Wort gewechselt hätten.
Zum Beispiel das mit seinen Kopfhörern, die anscheinend angewachsen waren. Owen
liebte
Musik, das war nicht zu übersehen, und hatte sein iPod immer entweder in der Hosentasche, hielt ihn in der Hand oder das Teil lagneben ihm auf der Mauer. Des Weiteren nahm ich seine unterschiedlichen Stimmungen beim Musikhören wahr. Normalerweise saß er regungslos da, wippte nur leicht mit dem Kopf, langsam, fast unmerklich. Zuweilen trommelte er mit den Fingern auf seinen Knien rum. Ganz selten summte er vor sich hin, aber nur, wenn sonst niemand in der Nähe war, und auch dann so leise, dass ich es kaum mitkriegte. Besonders in diesen Momenten fragte ich
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