Justin Mallory 01 - Jäger des verlorenen Einhorns
Umrisse des Genius waberten, und etwas von seiner Farbe schien zu schwinden. »Das war mein letzter Gefährte, der seinen Kummer und sein Leid äußerte, ehe er starb«, antwortete er traurig.
»Er ist verschwunden!«, schmollte Felina.
»Ich weiß nicht genau, wie ein Genius aussehen sollte«, sagte Mallory, »aber du siehst selbst nicht allzu gesund aus.«
»Ich sterbe«, seufzte der Genius und wurde blassgrau.
»Wieso?«
»Mangel an Nahrung. Ich verhungere in einer Welt der Fülle.«
»Was essen Genien der Börse denn?«, fragte Mallory.
»Aufregung. Spannung. Angst. Triumph.« Der Genius schien dahinzuschwinden und riss sich mit erkennbarem Willensaufwand wieder zusammen. »Ah, du ahnst ja nicht, wie es in früheren Zeiten hier war! Zu sehen, wie innerhalb einer Stunde Milliarden verdient und verloren wurden, den Schwarzen Dienstag mitzuerleben, die Raubzüge der Raubritter und die gerechte und schreckliche Vergeltung zu sehen!«
»Aber auch heute noch werden täglich Milliarden gemacht und wieder verloren«, stellte Mephisto fest.
»Es ist nicht mehr das Gleiche«, wandte der Genius ein. »Seht euch doch um!«, fuhr er fort, bildete einen Arm aus und deutete auf die endlosen Reihen von Bildschirmen und Terminals. »Wo sind die Menschen, wo bleibt die Aktivität? Früher verschlang diese Halle Wagenladungen von Papier; seht ihr jetzt auch nur einen einzigen Papierkorb? Alles läuft über Computer. Bestellungen werden angenommen, Geschäfte abgewickelt, Finanzimperien steigen auf und stürzen wieder - aber keine Emotion begleitet das mehr, keine Erregung. Wo bleibt der Drang, ein persönliches Vermögen zu gewinnen, der Antrieb, den Widersacher zu vernichten und in den Staub der Wall Street zu trampeln, der Kitzel des Triumphs und die Verzweiflung der Niederlage? Alles ist dahingegangen, vom Winde verweht wie meine Gefährten.«
»Sicherlich treten nach wie vor Emotionen auf«, sagte Mallory. »Hunderte Menschen arbeiten an den Computern. Sie müssen auch Hochgefühl und Niedergeschlagenheit erleben.«
»Das ist nicht das Gleiche«, sagte der Genius mit einem Seufzen, das im kalten leeren Raum widerhallte. »Für sie steht bei dem, was hier vorgeht, nichts Persönliches auf dem Spiel; der größte Teil des Geldes gehört Pensionsfonds und anderen Institutionen. Außerdem trifft die Maschine die Entscheidungen; die Männer und Frauen daran sind nur bessere Büroangestellte, die die Aufträge ihrer mechanischen Vorgesetzten ausführen. Die matten Emotionen, die sie dabei erleben, sind für uns nicht mehr als eine Hungerdiät. John D. wusste das; deshalb beschloss er auch zu sterben.«
»John D.?«
»Mein gefallener Gefährte«, erklärte der Genius. »Ich bin J. P.«
»J. P. Morgan?«, fragte Mallory.
»Ja«, antwortete dieser. »Das war mal ein Tyrann, ein Mann von gewaltigem Hass und gewaltigen Leidenschaften!« Der Genius leuchtete in hellem Violett auf, als er von seinem lange toten Namenspatron sprach. »In der Woche, als der Markt kollabierte, gab er zweiundert Millionen Dollar aus seinem Privatvermögen für den Versuch aus, die Börse ganz allein wieder auf die Beine zu bringen. Er allein muss damit fünfzig Genien Nahrung gespendet haben!« Der immer heller glühende Genius war ganz in träumerischer Erinnerung versunken. »Und als er nach seiner Auseinandersetzung mit Teddy Roosevelt hierherkam, prasselte die Luft regelrecht von Energie. Wissen Sie, damals kam es auf dem Parkett fast täglich zu Faustkämpfen.«
»Die Zeiten ändern sich«, fand Mallory.
»Ich weiß!«, seufzte J. P., und seine Farbe verblasste wieder. »Und wie schon die Dinosaurier, sterben wir allmählich aus, und das nicht mal mit einem großen Knall, sondern einem leisen Seufzer. Ich denke nicht mal, dass es mir noch etwas ausmacht. Es ist sehr einsam, wenn man der Letzte seiner Art ist. Ein Tag, eine Woche, einen Monat noch, und ich geselle mich wieder zu den verlorenen Gefährten.«
»Das tut mir leid«, sagte Mallory.
»Nicht nötig«, sagte J. P., inzwischen wieder mattgrau. »So widerfährt es jeder Spezies, den Menschen eingeschlossen.« Seine Umrisse schienen noch mehr an Substanz zu verlieren. »John D., Cyrus, August, ich sehe euch bald wieder, meine Freunde!«
Und dann war er verschwunden.
»Traurig«, bemerkte Mallory.
»Er hat geschummelt«, schniefte Felina.
»Wahrscheinlich fand er, dass er beschummelt worden war«, erklärte Mallory versonnen, »auch wenn er nie herausfand, wie oder warum
Weitere Kostenlose Bücher