Justin Mallory 02 - Mallory und die Nacht der Toten
behandelte das Erwachsenwerden einer jungen Frau im London des neunzehnten Jahrhunderts. Mallory war überzeugt, dass es ein prima Buch war, erfüllt von historischer Genauigkeit und brillanten Einsichten, hatte aber irgendwie das Gefühl, als würde er sich mit einem Abenteuer von Wings O’Bannon wohler fühlen.
Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und sah erneut auf die Uhr. 06 Uhr 41. Er blickte zum Fenster hinaus. Die Sonne würde in weniger als einer Stunde aufgehen.
Er nahm eine Zeitschrift zur Hand, blätterte darin, betrachtete die Mittelseite mit geübtem Blick, gestand sich ein, dass er diese Zeitschrift im Grunde nicht der Artikel wegen kaufte, und legte sie zurück in eine Schreibtischschublade.
Auf einmal hörte er im Nachbarzimmer Flügel schlagen. Er brauchte gar nicht hinzusehen, um zu wissen, worum es sich dabei handelte. Er hatte das Fenster etwa dreißig Zentimeter weit geöffnet, groß genug für eine große Fledermaus. Dann hörte er etwas auf dem Fußboden landen, das viel zu groß und zu schwer war, um durch das Fenster zu passen.
Mallory drehte den Stuhl so, dass er zum angrenzenden Zimmer blickte. Einen Augenblick später trat ein Mann von mäßigem Körperbau ein, ganz in Schwarz gekleidet.
Sein Blick strahlte etwas Seltsames, etwas Totes aus. Die Haut war grau und runzelig, das Haar schwarz, wenn auch mit grauen Strähnen an der Seite, die Adlernase schmal, die Lippen dünn, der Mund breit, die Zähne – sogar die großen Eckzähne – gelb von Alter und mangelnder Pflege. Er stand und ging, als bereitete ihm jede Bewegung Unbehagen, wenn nicht gar Schmerzen, und doch strahlte er eine Aura der Macht aus.
»Ich bin gekommen, um mir zurückzuholen, was mir gehört«, sagte er mit einer Stimme, die zu stark für den Körper schien.
»Sie sind gekommen, weil ich nach Ihnen geschickt habe«, entgegnete Mallory.
»Und warum haben Sie nach mir geschickt? Ich habe Sie noch nie gesehen. Ihr Name war mir bis heute Morgen unbekannt.«
»Na ja, gut, aber Ihr Name ist mir nicht unbekannt. Einer davon jedenfalls. Willkommen in meinem bescheidenen Büro, Vlad Dracule.«
»Also wissen Sie es«, bemerkte der Vampir. Dann zuckte er die Achseln. »Es macht keinen Unterschied. Das ist eine Information, die mit Ihnen sterben wird.«
Mallory blickte zum Fenster hinaus. »Die Sonne geht in etwa fünfundvierzig Minuten auf. Ich weiß, wo ich schlafen werde.« Er drehte sich wieder zu dem Vampir um. »Wissen Sie schon, wo Sie Ihr nächstes Nickerchen halten?«
»Darum geht es also«, sagte Vlad. »Was verlangen Sie für die Rückgabe meiner Heimaterde?«
»Sie steht nicht zum Verkauf.«
Vlad Dracule runzelte die Stirn. »Werden Sie deutlicher.«
Mallory muckste sich einen Augenblick lang nicht. Dann hörte er im Nebenzimmer das Geräusch, auf das er gewartet hatte, und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Vampir zu.
»Ich möchte Ihr Geld nicht«, erklärte Mallory. »Sie sind ein böses, unreines Ding, das die falsche Person umgebracht hat – den jungen Mann, den Sie auf der Untergehenden Seekuh zum ersten Mal gebissen hatten.«
»Ich denke, wir müssen hier etwas klarstellen, John Justin Mallory«, sagte der Vampir. »Ich bin sehr alt, älter, als Sie sich, denke ich, vorstellen können. Ich war schon vor Prag und Budapest da, vor Rom, sogar vor Troja. Sehen Sie mich an, Mr Mallory. Meine Haut ist wie Pergament, meine Knochen sind brüchig. Ich bin des Lebens müde, und doch bleibt die Lebenskraft in mir stark. Seit vielen Jahrzehnten wünsche ich mir, ich könnte sterben, könnte einfach die Bürde meiner Jahre und meiner Jahrtausende ablegen und aufhören zu existieren, aber das erwies sich als unerfüllbar. Ich bin, was ich bin, und ich bin für den Rest aller Zeiten da, auf Gedeih und Verderb.«
Noch während er sprach, schienen die Jahre von seinem Körper abzufallen, und als er fertig war, stand er Mallory furchteinflößend und erschreckend in seiner neu gefundenen Vitalität und Kraft gegenüber.
»Haben Sie auch Kartenkunststücke im Programm?«, fragte Mallory und bemühte sich dabei, viel weniger beeindruckt und erschrocken zu klingen, als er sich tatsächlich fühlte.
Der Vampir stieß vor Wut einen Laut aus, der halb Zischen war, halb Brüllen. »Sie wissen, weshalb ich gekommen bin! Man kann mich nicht umbringen. Geben Sie mir jetzt zurück, was Sie gestohlen haben, oder tragen Sie die Folgen!«
»Behalten Sie Ihre Drohungen für sich«, sagte Mallory mit mehr
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