Justiz
Merkwürdiges, eigentlich etwas Gespenstisches. Ich begriff den Kantonsrat mit einemmal.
Unerwartet. Die Einsicht überfiel mich geradezu. Ich erriet plötzlich das Motiv seines Handelns. Ich witterte es aus den kostbaren Möbeln, aus den Büchern, aus dem Billardtisch. Ich erspähte es aus der Verbindung von strengster Logik und Spiel, die sich diesem Räume eingeprägt hatte. Ich war in seinen Bau gedrungen, und nun sah ich klar. Kohler hatte nicht gemordet, weil er ein Spieler war. Er war kein Hasardeur. Ihn lockte nicht der Einsatz. Ihn lockte das Spiel selbst, das Rollen der Bälle, die Berechnung und die Ausführung, die Möglichkeit der Partie. Glück bedeutete ihm nichts (darum konnte er sich als vollkommen glücklich betrachten, er heuchelte nicht einmal).
Er war nur stolz darauf, daß es in seiner Macht lag, die Bedingungen des Spiels zu wählen, liebte es, das Abschnurren einer Notwendigkeit zu verfolgen, die er selbst geschaffen hatte – hier lag sein Humor. Natürlich gab es auch dafür einen Grund. Sublimster Machttrieb vielleicht, die Sucht, nicht nur mit Kugeln, sondern auch mit Menschen zu spielen, die Verführung, sich Gott gleichzusetzen.
Möglich. Aber nicht wichtig. Als Jurist habe ich an der Oberfläche zu bleiben, nicht in die Psychologie abzusinken oder gar in die Philosophie oder Theologie abzusacken. Mit seinem Morde hatte Kohler eine neue Partie begonnen, das war alles. Es lief nun nach seinem Plan. Ich war nichts als eine seiner Billardkugeln, die sein Stoß in Bewegung gesetzt hatte. Er handelte vollkommen logisch. Er hatte vor Gericht keinen Grund angegeben, weil dies unmöglich war.
Mörder handeln im allgemeinen aus handfesten Motiven. Aus Hunger oder aus Liebe. Geistige Motive sind selten und dann in der Verzerrung, die sie durch die Politik erfahren haben. Religiöse Motive kommen kaum mehr vor und führen direkt ins Irrenhaus. Der 58
Kantonsrat jedoch handelte aus Wissenschaftlichkeit. Das scheint absurd. Aber er war ein Denker. Seine Motive waren nicht konkret, sondern abstrakt. Hier mußte man ihn fassen. Er liebte das Billard nicht als Spiel an sich, sondern weil es ihm als Modell der Wirklichkeit diente. Als eine ihrer möglichen Vereinfachungen (Modell der Wirklichkeit, ich brauche einen Lieblingsausdruck Mocks, des Bildhauers, der sich viel mit Physik abgibt und wenig bildhauert, ein wirrer Spinnbruder, bei dem ich in letzter Zeit öfters in seinem Atelier sitze – wo soll man hierzulande nach Mitternacht noch trinken –, mit dem ein Gespräch seiner Taubheit wegen nur schwer möglich ist, der mir aber viele Lichter ansteckt). Aus dem gleichen Grunde beschäftigte sich Kohler mit den Naturwissenschaften und der Mathematik. Sie stellten für ihn ebenfalls »Modelle der Wirklichkeit« dar. Doch genügten ihm diese Modelle nicht mehr, er mußte zum Mord schreiten, um ein neues
»Modell« zu schaffen. Er experimentierte mit einem Verbrechen, der Mord wurde eine bloße Methode. Deshalb der Auftrag an Knulpe, die Folgen des Mordes zu bestimmen, deshalb aber auch der groteske Auftrag, einen anderen »möglichen« Mörder zu suchen. Erst jetzt in seinem Arbeitszimmer, allein mit den Dingen, mit denen sich der Alte beschäftigte, begriff ich das Gespräch, das ich mit ihm im Zuchthaus geführt hatte. »Es gilt, die Wirklichkeit auszuloten, die Wirkungen einer Tat exakt auszumessen« und »wir haben das Wirkliche umzudenken, um ins Mögliche vorzustoßen«. Der Dr. h. c.
hatte mit offenen Karten gespielt, aber ich hatte sein Spiel nicht begriffen. Erst wenn sein Spiel ernst genommen wurde, kam das Motiv zum Vorschein: er hatte getötet, um zu beobachten, gemordet, um die Gesetze zu untersuchen, die der menschlichen Gesellschaft zugrunde liegen. Hätte er jedoch dieses Motiv vor Gericht zugegeben, wäre es als bloße Ausrede betrachtet worden. Das Motiv war zu abstrakt für die Justiz. Aber das Denken der Wissenschaft ist nun einmal so beschaffen. Seine Abstraktheit ist sein Schutz. Doch kann es aus seiner Geborgenheit auf einmal hervorbrechen und gefährlich werden. Dann stehen wir ihm wehrlos gegenüber. Daß mit Kohlers Experiment etwas Ähnliches geschah, ist nicht zu bestreiten: Wissenschaftlicher Geist ging auf Mord aus. Damit ist weder der 59
Kantonsrat freigesprochen noch die Wissenschaft angegriffen. Je geistiger das Motiv eines Gewaltakts, desto böser ist es, je bewußter, desto weniger zu entschuldigen. Es wird unmenschlich. Eine Blasphemie. Insofern sah ich damals
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