Juwel meines Herzens
Wortlos legte sie beide Hände wie ein Teleskop um ein Auge. Sie wollte nur schauen. Offenbar hatte er ihre Geste verstanden, denn er nickte.
Sobald sie sich in Position gebracht hatte, rückte der Leutnant nach, um durch die Öffnung, die sie im Blattwerk geschaffen hatte, den Strand beobachten zu können. Der Anblick, der sich ihr bot, war schlimmer, als sie befürchtet hatte.
Nolan und Bellamy standen inmitten von Soldaten mit ihren Musketen im Anschlag nebeneinander. Beide waren an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt. Die übrige Crew, darunter auch Wayland, war zusammengetrieben worden und wurde nun von einer ähnlichen Anzahl an Rotröcken umzingelt. Devlin, der Offizier aus der heimatlichen Taverne, hatte das Kommando über alle Anwesenden übernommen. Seine Perücke hatte er in den Sand geworfen, sein hellbraunes Haar war aus der Schleife in seinem Nacken gerutscht, aber er nahm immer noch die Haltung eines Privilegierten ein, an der man ihn leicht erkennen konnte.
»Also los, Captain –«
»Ich bin hier der Captain. Sprecht mit mir, wenn Ihr irgendwelche Fragen habt«, fuhr Bellamy dazwischen.
Nolan zeigte keine Reaktion; aber auch niemand anderes regte sich, mit Ausnahme von Devlin, der die Augenbrauen hob und skeptisch in die Runde schaute.
»Also gut, Captain. Euer Mannschaftsmitglied hier ist nicht nur rebellisch, sondern auch noch ein Lügner. Wir haben Jack Casper aufgelesen. Wir mussten ihn auf See retten. Zusammen mit seiner Mannschaft war er in einem überfüllten, leckenden Ruderboot völlig betrunken ausgesetzt worden. Und da wir Euch ohnehin auf der Spur waren, war er uns netterweise bei der Navigation etwas behilflich. Er war es auch, der uns verraten hat, dass Ihr einen Streit hattet. Der Grund soll ein weiblicher Passagier mit dunklen Haaren und außergewöhnlich grünen Augen gewesen sein.«
Der Marineoffizier hatte während seiner Rede Nolan fixiert und Bellamy nur ein- oder zweimal abschätzige Blicke zugeworfen. »Also, wo ist das Mädchen?«
Nolan und Bellamy schwiegen. Sie hatten ihr den Rücken zugewandt, aber Jewel sah den trotzigen Ausdruck auf ihren Gesichtern vor sich.
Devlin zuckte unbeteiligt mit den Schultern. »Seid sicher, ich werde sie finden. Es ist nur eine kleine Insel. Natürlich müsst Ihr keine Angst haben, dass ich ihr in irgendeiner Weise schaden werde. Das ist das Letzte, was ich will. Da ihre bisherigen Beschützer bald unpässlich sein werden, geht es bei meinen Nachforschungen einzig und allein um ihre Sicherheit und meine Neugierde. Und was das aktuelle Problem mit Euch angeht …«
Devlin wandte sich der Mannschaft zu und stapfte mit seinen schweren Stiefeln durch den Sand. Er trug einen roten Mantel, der ihm bis zu den Knien reichte, und eine Weste, die fast genauso lang war. Angesichts der Hitze und dem sandigen Strand war seine Gewandheit wie auch seine Kondition erstaunlich. Noch ehe Jewel wusste, was sie überhaupt tat, hatte sie schon zu überlegen begonnen, wie er wohl kämpfen würde.
Nachdem er die Mannschaft der
Integrity
kritisch geprüft hatte, wandte er sich wieder an Nolan. »Und wo ist der Junge?«
Wieder antwortete niemand.
»Hey, ihr beiden!«, wurde Devlin ungeduldig. »Ich meine den Jungen, der unseren Wachoffizier getötet hat. Die andere Wache konnte Euch beschreiben«, er nickte Nolan zu, »und einen schmalen Jungen, der unerhört geschickt mit dem Schwert umgehen konnte. Wir werden ihn natürlich mitnehmen. Nicht dass Euch noch das gleiche Schicksal wie unsere Wache ereilt. Über ihn wird der Lord High Admiral entscheiden. Meine Aufgabe ist es lediglich, Euch auszuliefern.«
»Und unser Schicksal ist …?«, fragte Nolan.
»Der Galgen natürlich. Piraten werden gehängt, wusstet Ihr das nicht?«, sagte Devlin im gleichen höflich-herablassenden Tonfall, den er im »Quail and Queen« Jewel gegenüber angeschlagen hatte.
Bellamy lachte. »Captain Kenton ist doch kein Pirat, oder wusstet
Ihr
das etwa nicht? Er ist Freibeuter.«
Devlin trat auf Nolan zu und sah ihn prüfend an. »Wer hat Euren Kaperbrief ausgestellt?«
Nolan zuckte leicht zusammen, und Jewel wusste, dass er verloren hatte. Sie dachte an seinen Großvater und musste realisieren, dass Nolan trotz all seiner Bemühungen in die Falle geraten war, die er so verzweifelt versucht hatte zu umgehen, seit er sich auf dieser Reise befand.
»Ich habe vor, mir das Schreiben vom Continental Congress ausstellen zu lassen.«
Devlin nickte. Er war von der Antwort
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