Juwel meines Herzens
hatte, erschien er kurze Zeit später direkt neben ihr.
»Ich kann das alles nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass mein alter Lehrer mit einem bekannten Piraten um Leben und Tod kämpft. In Boston klang es wie eine wunderbare Idee, sich Nolan für die Schatzsuche anzuschließen, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich hasse den Gedanken, dass ihm etwas passieren könnte, aber die Vorstellung, unter Eurem Vater zu dienen, ist um ein Vielfaches schlimmer.«
»Nolan war Euer Lehrer? Das wusste ich nicht.« Jewel ging schneller. Von Alltagsdingen zu sprechen, ließ ihr Herz zu seinem normalen Rhythmus zurückfinden, während Tyrell dabei offenbar vergaß, sie von ihrem Plan abzuhalten.
»Ich war nicht gerade der beste Schüler, das muss ich wohl oder übel zugeben, aber ich bin gerne zu seinem Unterricht gegangen, weil ich dann in seiner Nähe sein konnte. Es kursierten Gerüchte über ihn, obwohl er glaubte, alle täuschen zu können. Niemand hat es ihm je ins Gesicht gesagt, aber die ganze Gemeinde wusste, dass die Kentons von Captain Kent abstammen. Ich schätze, deswegen hatte sein Vater auch so viele Anhänger.«
Ein gelblicher Schimmer, das Licht der Laternen, flackerte plötzlich durch das dunkle Blattwerk, das sie noch vom Strand trennte. In dem Moment überholte sie Tyrell und versperrte ihr den Weg. »Ihr könnt da nicht hingehen.«
»Tyrell –«
Er unterbrach sie mit erhobener Hand: »Ich werde nachsehen, was gerade passiert oder schon passiert ist, und dann könnt Ihr meinetwegen versuchen, sie aufzuhalten. In Ordnung?«
Jewel studierte sein ernstes Gesicht. Er war nicht an Bord der
Neptune
gewesen, und sie bezweifelte, dass er mit dem Anblick von Tod und Blutvergießen besser umgehen konnte als sie. Wie es sich anhörte, hatte er doch gerade eben erst die Schule hinter sich gebracht.
»In Ordnung. Aber ich bleibe direkt hinter Euch, hier, im Unterholz, bis Ihr sagt, dass ich kommen kann. Und Tyrell, sollte es zum Schlimmsten kommen –« Sie schluckte, konnte nicht aussprechen, dass Nolan oder ihr Vater bereits tödlich verwundet sein könnte. »Wenn es zum Schlimmsten kommt, dann möchte ich bei ihnen sein.«
Der Leutnant nickte, drehte sich um und ging auf den Lichtschein zu. Auf den dunklen Blättern um sie herum züngelten schwarze Schatten, die von den Fackeln geworfen wurden. Die Nacht kam Jewel plötzlich besonders warm vor, und ein Schweißtropfen bahnte sich den Weg zwischen ihren Schulterblättern an ihrem Rücken entlang. Sie trug ihr Haar offen, hatte nicht daran gedacht, es zu einem Zopf zu binden, und jetzt klebten ihr einzelne Strähnen auf den Wangen und am Nacken.
Ein metallisches Geräusch, das sich nicht wie das Klirren von Schwertern anhörte, drang als Erstes an ihr Ohr. Jewels unheilvolle Vorahnungen wurden stärker, während Tyrell dagegen nicht aufzufallen schien, dass etwas nicht stimmte. Entschlossenen Schrittes arbeitete er sich weiter vor. Sie hielt ihn hinten am Bund seiner Hose, dem einzigen Kleidungsstück, das er mit Ausnahme seiner Stiefel noch trug.
»Wartet«, flüsterte sie mit eindringlicher Stimme. Er sah sich um, sein gebräuntes Gesicht hatte sich sorgenvoll in Falten gelegt. Dann nickte er, anscheinend hatte er es jetzt auch gemerkt. Gemeinsam kauerten sie sich hinter dem riesigen Blatt einer tropischen Pflanze, warteten und horchten.
»Wo ist das Mädchen? Ich würde gerne alles nachholen«, war eine Stimme zu vernehmen, von der sie wusste, dass sie zu keinem der Crew gehörte, die sie aber trotzdem kannte. Sie zeichnete sich durch aristokratisches Näseln und durch die spröde Aussprache von jemandem aus, der erst kürzlich England verlassen hatte.
»Woher soll ich das wissen? Höchstwahrscheinlich wieder in Charles Town.« Nolan klang nicht wie er selbst. Irgendetwas war hier vollkommen verkehrt. Und dann dämmerte es Jewel. Die englische Stimme gehörte Devlin, dem Marineoffizier, der ihr im »Quail and Queen« das unsittliche Angebot gemacht hatte. Der Mann, der außerdem die
Integrity
geentert und Nolans Crew zwangsrekrutiert hatte, und eben der Kapitän des Schiffes, von dem sie die Mannschaft dann gemeinsam wieder gerettet hatten. Sie hatte mit eigenen Händen einen Mann seiner Besatzung getötet. Mein Gott, war er gekommen, um sie zu holen?
Sie beugte sich vor, um zwischen den Blättern hindurchzuspähen, aber Tyrell zog sie so heftig zurück, dass sie auf den Rücken fiel. Mit panischem Blick schüttelte er den Kopf.
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