Juwel meines Herzens
keuchen, aufgehört zu atmen.
Jewel kniete sich nieder und rollte ihn auf den Rücken. Sie legte ihre Hand auf sein rot durchtränktes Hemd, vielleicht konnte sie die Blutung ja stoppen – ungeschehen machen, was sie gerade getan hatte. Sein Blick war starr. Sie gab ihm eine Ohrfeige, hoffte, er sei nur benommen. Danach prangte ein blutiger Abdruck auf seiner gebräunten Wange, aber er hatte noch nicht einmal gezwinkert. Sie drehte seinen Kopf, so dass sie seine Augen sehen konnte, und betete um ein Lebenszeichen. Erschrocken musste sie feststellen, dass er etwa in ihrem Alter war, vielleicht sogar noch etwas jünger. Mit seinen weiten Augen und dem Mund, den er zu einem letzten verzweifelten Atemzug geöffnet hatte, sah er harmlos aus. Er hätte einer ihrer Gäste aus dem »Quail and Queen« sein können. Vielleicht hatte sie ihn sogar schon einmal bedient.
»Nein«, flüsterte sie und schüttelte ihn. »Wach auf!«
Ein starker Arm legte sich um ihre Hüfte und zog sie hoch. Sie wurde von ihrem Opfer weggebracht, bevor sie wusste, wie ihr geschah – sie konnte nicht einmal mehr reagieren. Ihre Welt war nicht mehr dieselbe. Alles war plötzlich anders. Sie wusste nicht, ob ihre Beine sie überhaupt noch tragen würden, doch Nolan ließ ihr keine Zeit, es herauszufinden. Halb zog, halb trug er sie zur Reling.
Sie erblickte noch einen Mann liegend an Deck. Seine Augen waren geschlossen. Er bewegte sich nicht. »Ist er auch tot?«, hauchte sie und schloss die Augen. Noch mehr Blutvergießen konnte sie nicht ertragen. Ihr Magen drohte ohnehin schon, sich zu entleeren.
Nolan hob sie auf die Brüstung. »Kannst du schwimmen?«
Sie öffnete die Augen. »Nein.«
»Dann halt dich fest.«
Im nächsten Moment war er schon, einen Arm fest um ihre Hüfte geschlungen, über die Reling gestiegen. Erst Sekundenbruchteile, bevor sie sich im freien Fall befanden, wurde ihr klar, was er überhaupt vorhatte.
Zum Glück hatte sie vor dem Sprung die Höhe des Schiffes abschätzen können, aber der Fall schien eine Ewigkeit zu dauern. Sie klammerte sich an Nolan. Gemeinsam schlugen sie so hart auf dem Wasser auf, dass Jewel fürchtete, ohnmächtig zu werden. Instinktiv schnappte sie nach Luft und atmete einen ganzen Mundvoll Salzwasser ein. Ihre Arme hatten keine Kraft mehr, sich an Nolan zu klammern, und Jewel war sich sicher, dass sie die Augen nie wieder öffnen würde. Aber statt nach unten zu sinken, hielt Nolan sie fest an seine Brust gedrückt. Der Drang, um sich zu schlagen, dem Druck zu entkommen, der auf ihren Lungen lastete, ließ sie sich von ihm wegdrücken, doch er hielt sie umso fester und presste ihre Arme gegen seinen Körper. Irgendwie gelangten sie gemeinsam wieder an die Oberfläche, ehe Jewel noch mehr Wasser schlucken konnte. Nach Luft ringend, würgte und spuckte sie aus.
»Hör auf, dich gegen mich zu wehren. Ich halte dich«, wies Nolan sie an.
Auf seine Mahnung hin wurde sie instinktiv ruhiger. Für alles andere zu schwach, ließ sie sich von Nolan durch das Wasser ziehen, bis sie ohne ein Wort der Warnung von starken Armen in ein Ruderboot gehoben wurde. Ihre Augen brannten, und ihre Kehle schmerzte vom Salzwasser. Kein Wunder, dass sie noch nie den Drang verspürt hatte, schwimmen zu lernen. Wem konnte so etwas schon gefallen? Völlig durchnässt und klamm trugen sie die Männer in den hinteren Teil des Bootes und zwangen sie, im Heck zu sitzen. Jewel fühlte sich wie ein großer Fisch, der für das Abendessen von der Ausfahrt nach Hause gebracht wird. Ein großer, toter Fisch. Nichts würde je wieder gut sein. Ihre Kindheitsträume von Abenteuern hatten sich in einen Alptraum verwandelt, aus dem sie noch nicht einmal Nolan erwecken konnte.
[home]
Kapitel zehn
A nkerketten kappen!«, rief Nolan, als er sich über die Reling der
Integrity
schwang.
»Schon fast gehoben, Captain.«
Mit ihrem ganzen Gewicht stemmten sich sieben starke Männer gegen den hölzernen Arm des Spills, um den Anker aus den Tiefen des Ozeans zu hieven. Sie keuchten und stöhnten vor Anstrengung, aber sie wussten genau, wie wichtig es war, schnell Distanz zur
Neptune
herzustellen. Auch Nolans geretteten Männer gesellten sich zu ihren Kameraden und packten mit an, so dass der Ankerspill sich bald um die eigene Achse drehte.
»Gute Arbeit, Mr. Lamont!« Nolan rannte zum Steuer. »Hisst die Segel. Großsegel ausrollen!« Das Glück war auf ihrer Seite. Sie hatten die Gezeiten im Rücken. Aber ein Mann war durch die
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