Juwel meines Herzens
hatte. Er war so von der Furcht und dem Sieg berauscht gewesen, dass er nicht daran gedacht hatte, dass er ein Leben genommen hatte. Bis er die Augen schloss. In der folgenden schlaflosen Nacht hatte er ununterbrochen gegen seinen Willen die Gesichtszüge des toten Mannes vor sich gesehen.
Er war stämmig gewesen, doppelt so alt wie Nolan. Abends war in einer Taverne der Alkohol in Strömen geflossen, und die Männer hatten sich mit Huren vergnügt. Dann war es zu einem Kampf gekommen. Nolan, eigentlich noch zu jung für beides, blieb kaum eine Wahl, als in der Schlägerei mitzumischen, ansonsten hätte er das Gasthaus wohl nicht mehr lebendig verlassen. Der Mann hatte sich zweifellos in der Annahme auf ihn gestürzt, in ihm ein leichtes Opfer zu finden und sich für die folgenden Kämpfe aufzuwärmen. Mit der Kraft der Verzweiflung rammte Nolan dem Mann sein Schwert in den Bauch, noch ehe dieser einen ordentlichen Stoß ausführen konnte. Der Mann war gestorben, einen Ausdruck geschockter Überraschung auf dem Gesicht. Seine Augen hatten Nolan die ganze Nacht hindurch verfolgt. Wenn er es heraufbeschwor, tauchte dieses Bild noch immer in Nolans Geist auf, doch in den Jahren hatte er gelernt, die Vorstellung nicht mehr zuzulassen.
»Übernehmt das Steuer. Ich werde mich um sie kümmern. Ist sie in ihrer Kajüte?«, fragte er.
Tyrell war sichtlich erleichtert. Scheinbar fand er es angenehmer, ein Schiff im Sturm zu steuern, als sich um eine hysterische Frau zu kümmern. »Nein, sie hängt über der Reling. Ist nicht zu übersehen. Im Moment ist Wayland bei ihr.«
Nolan konnte Jewel hören, noch ehe er sie sah. Als er ihr Schluchzen vernahm, das das Tosen der Wellen übertönte, wappnete er sich gegen das Gefühlschaos, das ihn zu überwältigen drohte. Mitgefühl, Erbarmen und das Bedürfnis, sie zu beschützen, gekrönt von der Gier, sie zu besitzen, waren eine zu gefährliche Mischung: In seinem Inneren tobte ein Sturm. Er wollte nicht, dass irgendjemand anderes bei Jewel war als er selbst.
Obwohl ihn eine innere Stimme ermahnte, sich von ihr fernzuhalten, beschleunigte Nolan seinen Schritt. Wayland hatte seinen Arm um Jewel gelegt, damit sie bei einer großen Meereswoge nicht über Bord gehen würde. Da ihr Oberkörper halb über der Reling hing, hatte sie ihn nicht kommen sehen.
Mit einer Kopfbewegung bedeutete er Wayland zu gehen, und dieses eine Mal gehorchte er sofort.
Nolan schlang seinen Arm um Jewels Hüfte. Ihren Rücken hatte sie ihm zugewandt, so dass er mit der anderen Hand ihre Schulter massieren konnte. Bei der vertraulichen Berührung verkrampfte sie sich sofort.
»Es ist in Ordnung. Ich weiß, wie sehr du leidest. Ich hätte schon viel früher an deiner Seite sein sollen«, sagte er so ruhig, dass es ihn selbst überraschte.
Als sie sich zu entspannen begann, musste Nolan einen Seufzer unterdrücken. Es fühlte sich so gut an, sie in den Armen zu halten, trotzdem war es nicht seine Absicht gewesen, ihre Lage auszunützen. Das Einzige, was er wollte, war, sie zu trösten. Verdammt wollte er sein, sollte er sich dem ergeben, was sie in ihm hervorrief.
»Harvey hat mir nie beigebracht, wie ich meine Gegner verwunde. Nur wie ich sie töte«, sagte sie plötzlich. »Wahrscheinlich dachte er, dass ich nur zum Spaß üben wollte und sowieso nie in einen wirklichen Kampf verwickelt sein würde«, fügte sie unter Schluchzern hinzu.
»Er war dir ein guter Lehrer. Und heute hattest du keine andere Wahl. In der Realität kann man nicht kämpfen, nur um zu verwunden, wenn der Gegner es auf deinen Tod abgesehen hat.«
»Aber
du
hast nicht getötet …« Ihre Stimme verlor sich, und ihr Atem ging stoßweise. Nolan merkte, dass sie darum kämpfte, nicht vor ihm zu weinen.
»Wahrscheinlich hätte ich es tun sollen. Tote können weder etwas verraten noch dich später aufspüren.«
Jewel zitterte. »So etwas kann ich gar nicht denken.«
Er zog sie noch enger an sich, schlang seine Arme um sie, um ihren Körper mit dem seinen zu wärmen. »Wenn du mit dem Schwert lebst, ist das die einzige Art zu denken. Das hat mir dein Vater beigebracht.«
Leichtes Zittern ließ sie erbeben. Sie hatte ihren Tränen nachgegeben. Für Nolan war das stumme Schluchzen schlimmer als alles laute, haarsträubende Heulen. Warum hatte er das gesagt? Er wollte sie doch trösten, nicht an seinen Gefühlen teilhaben lassen. »Auch für mich war es eine schwere Lektion, das zu lernen, Jewel, aber sie hat mir das Leben gerettet.
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