K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
hatte. Seine Aufgabe hatte darin bestanden zu verhindern, dass der Gepeinigte starb, bevor er die Informationen lieferte, die die Folterknechte aus ihm herauspressen wollten. Bei diesem Treffen hatte K. auch ein Einzelfoto des Ehemanns seiner Tochter dabei, das dessen Familie ihm überlassen hatte. Erst jetzt, als er die blaue Schachtel durchstöbert, findet er ein Bild, das die beiden zusammen zeigt.
K. geht im Geiste noch einmal die Begegnung mit dem Arzt durch; die kaum zu verbergende Abneigung, die er verspürt hat, als er den Raum betrat. Angesichts des Fotos der Tochter am Tag der Diplomverleihung schüttelte der Arzt entschieden den Kopf. Er hatte sie nicht erkannt. Mit dem zweiten Foto, das mit dem leidvollen Blick, konfrontiert, schüttelte er abermals den Kopf, aber K. glaubte, ein gewisses Zögern zu bemerken. Dann, als er ihm das Foto des Ehemanns vorlegte, erneut ein verneinendes Kopfschütteln, doch diesmal war sich K. sicher, dass etwas den Mann erschüttert hatte. Deshalb legte K. ihm sämtliche Fotos noch ein zweites Mal vor. Keine Reaktion. Doch der Arzt behauptete erneut, keinen der beiden zu erkennen. Frustriert und unglücklich kehrte K. nach São Paulo zurück, vor allem, weil er sich sicher war, dass der Arzt etwas wusste, es aber nicht preisgeben wollte. Es musste etwas Schreckliches sein. Er musste einen Fehler gemacht haben.
Während K. weitere Fotos aus der Schachtel nimmt und jedes einzelne eingehend betrachtet, jeden Hintergrund zu entschlüsseln versucht, aufgrund von Details wie Frisur oder Kleidung herauszufinden versucht, was für ein Moment dort eingefangen worden war, geht er immer tiefer in sich. Er findet kein einziges Bild, auf dem die Tochter mit der Mutter oder dem Vater oder dem ältesten Bruder zu sehen ist. Als ob sie weder Mutter noch Vater gehabt hätte; nur einen Bruder.
Den ältesten Bruder hatte sie in der Tat kaum kennengelernt, denn als sie geboren wurde, hatte er sich schon von der Familie losgesagt und war kaum noch im Haus seiner Eltern. Sie war vielleicht neun, als er sich aufmachte, um in einem kibuts in Erets Yisro’el zu leben.
Das Fehlen von Fotos der Mutter hing vielleicht mit deren chronischer Antriebslosigkeit zusammen. Die Tochter war mitten im Krieg geboren und die Mutter wegen der Gerüchte über die Ermordung ihrer Familie in Polen völlig aufgelöst. Schlimmer noch, während ihrer Kindheit hatte seine Tochter eine Mutter gehabt, die sich nach der Bestätigung dieser Morde gänzlich aufgegeben hatte.
K. ist verstört, da er unter den Fotos keines findet, auf dem er selbst zu sehen ist, obwohl sie sein Liebling gewesen war und er sie jeden Tag zur Schule gebracht und sie verwöhnt hatte wie eine Prinzessin. Es wurde ihm bewusst, dass er nie ein Fotoalbum mit Bildern seiner Tochter angelegt hatte. Jede Familie hatte solche Alben, nur seine nicht.
Von seinem ältesten Sohn, dem Erstgeborenen, hatte seine Frau ein komplettes Album angelegt, von der Zeit an, als er ein Baby war, bis zu seiner Hochzeit, danach kamen Bilder, auf denen er, abgemagert, in dem kibuts zu sehen war, dann folgten die Enkelkinder. Von seinem mittleren Sohn gab es diese Fotokomposition, auf der das Kind in allen möglichen Posen lächelte – ein Muss zur damaligen Zeit. Sie hatten sie in einem schönen Bilderrahmen bewahrt, aber ein Album gab es nicht. Und von der Tochter gab es gar nichts. Weder gerahmte Bilder noch Album. Die Mutter fand die Tochter hässlich. K. wusste das. Daran muss es wohl gelegen haben, dachte er. Für ihn war seine Tochter keineswegs hässlich, aber er hatte trotzdem kein Album von ihr angelegt.
Aus Europa hatte K. ein Fotoalbum mit verschwommenen sepiafarbenen Bildern mitgebracht, die eine gewisse Magie ausstrahlten. Fotos der Eltern, seines Onkels Beni, der später in der Roten Armee kämpfen sollte, der Brüder in Berlin, des alten Hauses, das sie in Wloclawek bewohnten. Und die Fotos seiner Literaturfreunde, die ganze Gruppe versammelt in Warschau. Er, noch jung, unter all diesen wichtigen Leuten. Vor allem das Bild, auf dem er neben dem großen Schriftsteller Joseph Opatoshu zu sehen war, erfüllte ihn mit Stolz. Es fiel ihm ein, dass seine Frau auf den zwei letzten Seiten, die noch leer waren, Fotos der Kinder eingeklebt hatte, nicht mehr als zwei oder drei und dazu noch eines der erstgeborenen Enkelin. Aber kein einziges der Tochter.
K. wundert sich über eine Serie, die 1966 – so stand es auf der Rückseite einiger Bilder – in Parati
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