K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
nicht begreift:
»Sie sagen, Sie haben ab und zu für Fleury gearbeitet, das verstehe ich nicht – und hängen Ihre Halluzinationen damit zusammen?«
Das Mädchen scheint nun entschlossen zu reden. Sie spricht deutlich, wenn auch etwas stockend:
»Es ist kompliziert, ich muss von Anfang an erzählen: Der Fleury hat mich aus dem Frauengefängnis von Taubaté herausgeholt und mich in dieses Haus gebracht. Er hat mich auf Bewährung freigekriegt und mich zum Aushelfen mitgenommen. Ich war im oberen Stock, habe Kaffee gekocht, Brote geschmiert, gefegt, den Gefangenen Wasser gebracht, ab und zu eine Zelle gesäubert … «
Jesuína unterbricht sich und fügt hinzu: »Immer, wenn er kam, musste ich auch mit ihm ins Bett gehen … «
»Kommen diese Blutungen und Halluzinationen daher, hat er Ihnen Gewalt angetan?«
»Nein, das hat mir nichts ausgemacht, ich bin mit ihm ins Bett, weil ich wollte, es hat mir Spaß gemacht. Die Halluzinationen haben später angefangen, als das Haus schon geschlossen war.«
»Das Haus, was für ein Haus ist das, Jesuína, so wie Sie es sagen, hört es sich an, bitte entschuldigen Sie das Wort, wie ein Bordell …«
»Nein, überhaupt nicht, Sie haben mich nicht verstanden. Es war ein Gefängnis, getarnt als Wohnhaus. Manchmal befahl er mir, die Gefangenen zu belauschen und zu hören, was der eine oder andere sagte; ich sollte sauber machen oder ihnen Wasser bringen und so tun, als ob ich auf ihrer Seite stehe, um zu sehen, ob sie mir irgendwelche Zettel zustecken, eine Telefonnummer, ich sollte mich mitfühlend zeigen, ihnen anbieten, der Familie Bescheid zu sagen, solche Sachen. Manchmal haben sie mir geglaubt und mir einen Zettel zugesteckt. Ich habe ihn direkt an Fleury weitergegeben. Ich tat so, als ob ich auch eine Gefangene sei und gezwungen wäre zu putzen; wenn sie mich fragten, sollte ich sagen, ich hätte meinen Stiefvater umgebracht, weil er mich vergewaltigt hat, und dass ich von der Strafanstalt Bangu verlegt worden wäre, um hier als Reinigungskraft zu arbeiten. Das war die Geschichte, die ich erzählen sollte, aber immer nur einen Teil davon, nur so viel, dass sie Vertrauen fassten. Einmal haben sie mich zusammen mit einer Gefangenen in eine Zelle gesperrt. Aber das ist nur ein einziges Mal passiert.«
»Und diese Story, den Stiefvater umgebracht zu haben, Jesuína, stimmt die oder ist die erfunden?«
»Erfunden, er ist überhaupt nicht gestorben, ich habe es versucht, aber es war nur so’n kleines Messer und ich war erst dreizehn. Er hat mich vergewaltigt, als ich zwölf war. Hat gewartet, bis meine Mutter weg zur Arbeit ist und hat mich dann gepackt. Das habe ich nie vergessen, dieses Untier, ich habe viel Blut verloren, als ich dieses blutverschmierte Laken gesehen habe, dachte ich, jetzt sterbe ich. Die Blutungen haben wegen diesem Stiefvater angefangen. Jedes Mal, wenn er sich an mich herangemacht hat, sogar schon, bevor er mich anfasste, fing ich an zu bluten. Da bin ich von zu Hause abgehauen und hab mit den Drogen angefangen. Ich hab einen Typen kennen gelernt, der mir geholfen hat, von zu Hause wegzukommen. Ich bin nie wieder zurück. Im Frauengefängnis hab ich gesessen wegen der Drogen, das hatte nichts mit dem Stiefvater zu tun. Dieser Typ dealte und ich wurde mit in die Sache hineingezogen.«
»Haben denn die Gefangenen, deren Vertrauen Sie gewinnen sollten, Ihre Geschichte geglaubt?«
»Sie hatten keine Zeit, mir zu glauben oder auch nicht. Sie sind nicht länger als ein oder zwei Tage geblieben. Der Fleury hat gesagt, ich brauchte nicht viel zu erfinden, wenn die Gefangenen nachfragten, sollte ich bei der Geschichte mit dem Stiefvater bleiben. Der Fleury ist immer zusammen mit dem Gefangenen angekommen oder etwas später; er ist aus São Paulo angereist, wissen Sie, und in der gleichen Nacht oder am nächsten Morgen hat er sie verhört, und danach waren die Gefangenen schon verschwunden, und ein paar Tage später kamen neue.«
Voller Entsetzen spürt die Therapeutin, wie ihr die Hände zittern, sie tut so, als ob sie sich Notizen auf der Karteikarte macht, aber nicht einmal das gelingt ihr. Sie trinkt ein wenig Wasser, das sie aus der Kanne eingießt, die auf der Konsole neben ihr steht, und bietet Jesuína ebenfalls ein Glas an, sie nimmt es. Sie muss nachdenken. Das, was sie gehört hat, jagt ihr Angst ein, aber gleichzeitig will sie mehr erfahren. Die Gesichter von ehemaligen Kollegen und Freunden tauchen blitzartig vor ihrem geistigen Auge auf.
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