K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
aufgenommen worden war. Obwohl man auch auf diesen Bildern dieses Zarte und Verletzliche an ihr wahrnahm, schien sie eine reife, erfüllte Frau zu sein, ihr Gesicht war entspannt wie bei jemandem, der eine schöne Zeit erlebt. Die nach hinten gebundenen Haare bildeten einen unauffälligen Zopf. Auf all diesen Fotos strahlte sie Eleganz aus.
Acht Jahre später spielt sich eine Tragödie ab. K. versucht zu erraten, welche dieser Momentaufnahmen wohl das letzte Foto seiner Tochter gewesen war. Er kommt wieder zu dem Bild mit dem traurigen Gesicht zurück, dieses, das er der Polizei und dem Arzt gezeigt hatte. Er entdeckte noch vier weitere Bilder, die nacheinander aufgenommen worden waren, und das gleiche Szenario am Rand eines Bettes oder Sofas wiedergaben, die gleiche dünne geblümte Bluse, der gleiche niedergeschlagene Gesichtsausdruck, der gleiche matte und trostlose Blick. Hier, da ist er sich sicher, hatte sie schon ein Vorgefühl des Allerschlimmsten.
K. schließt die Schachtel und stellt sie wieder zurück an den Platz, wo er sie entdeckt hat. Er überlegt: Wenn er diesem Arzt in Rio ein ganzes Album mit Fotos seiner Tochter gezeigt hätte, von der Wiege bis kurz vor ihrem Verschwinden, ihr gesamtes Leben umfassend, sie in all ihren Facetten zeigend, dann hätte er sie vielleicht wiedererkannt und ihm erklärt, was geschehen war. Aber er besaß kein Album mit Fotos seiner Tochter. Derart intensiv mit der Literatur und seinen Zeitungsartikeln beschäftigt, hatte er sich darum nie gekümmert.
Die Therapie
Das Gesicht ist gut geschnitten, aber ausdruckslos, dünne Lippen und kleine, schläfrige Augen; die Kleidung unscheinbar, graue Bluse und grauer Rock als Arbeitskleidung. Das schwarze, strähnige Haar trägt sie kurz. Sie ist klein und kräftig. Zögernd betritt sie den Raum der Psychologin, presst die Hände gegeneinander und hält den Blick gesenkt. Die Therapeutin ist mit einer Karteikarte beschäftigt und fordert sie auf, sich zu setzen.
»Jesuína Gonzaga, zweiundzwanzig Jahre alt, hier steht, dass Sie nicht schlafen können, an Halluzinationen leiden und ein Attest brauchen, um sich behandeln zu lassen, richtig? Sind Sie wegen der Halluzinationen hergekommen?«
»Ich bin hergekommen, weil die Firmenleitung mich geschickt hat. Auf dem Papier der Firma muss stehen, dass ich schnell die Nerven verliere und nicht arbeitsfähig bin.«
»Ja, der Arzt der Ultragas schreibt das. Woraus besteht denn Ihre Arbeit, Jesuína?«
»Ich bin Reinigungskraft; früher habe ich in der Küche ausgeholfen, aber da haben sie immer so laut geschrieen; ich habe gebeten, mich in eine andere Abteilung zu schicken, mir war’s egal, ob ich putze. Aber auch bei dieser Arbeit regt mich jede Kleinigkeit auf, und dann fange ich an zu zittern, mir wird ganz schwindlig und ich muss mich abstützen. Viel Schmutz macht mich auch nervös.«
»Es scheint, als ob sie Sie recht gern haben, sonst hätten sie Sie entlassen, nicht wahr, Jesuína? Sagen Sie mal, bevor Sie eingestellt wurden, haben Sie da nicht die vorgesehenen ärztlichen Untersuchungen gemacht? Oder ging es Ihnen erst schlecht, nachdem Sie schon eingestellt waren?«
»Ich habe keine Untersuchung gemacht … sie werden mich nicht rauswerfen; sie haben es mir versprochen, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen; da hatten sie diese Idee mit der Krankschreibung, sie haben sogar davon gesprochen, mich wegen Arbeitsunfähigkeit vorzeitig in Rente zu schicken, aber dafür brauche ich erst mal das ärztliche Attest, so haben sie es mir erklärt. Alles Korinthenkacker. Immer diese Geheimniskrämerei. Aber zu mir sind sie gut; wer mir den Job vermittelt hat, das sind Leute von oben.«
Die Therapeutin checkt erneut die Karteikarte. Oft ist es so, dass Leute ohne vorausgehende Untersuchung beschäftigt werden, vor allem, wenn es um das Verrichten niederer Tätigkeiten wie Putzen geht. Oder sie greifen auf eine Agentur zurück, um sich das Ganze zu sparen. Aber sie hat gesagt, die, die sie vermittelt hätten, seien Leute von oben … Ob sie womöglich einem Direktor zu Diensten war, auch wenn man sie nicht gerade attraktiv nennen kann? Oder war eine andere Beziehung im Spiel, vielleicht war sie das außereheliche Kind von einem dieser Herren? Neugierig versucht die Therapeutin, das Mädchen zum Sprechen zu bewegen:
»Und ist es das, was Sie möchten? Möchten Sie in Rente gehen?«
»Wer würde nicht gern Geld fürs Nichtstun bekommen … Aber noch besser wär’s, gesund zu
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