K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Schenkelbrand zur Kennzeichnung der Rinder in Paraná. Dieses Zeichen bleibt für immer sichtbar. Genau so, wie Sie bis an Ihr Lebensende Ihren Schmerz mit sich herumtragen werden, werde auch ich dieses Brandzeichen bis zu meinem Tod tragen. Mein Trost ist, dass ich Zinho gerettet habe. Sie konnten Ihren Sohn nicht retten … das ist traurig, sehr traurig, es hätte nicht so sein müssen. Ich bringe Sie noch bis zur Tür. Nein, danken Sie mir nicht, ich habe Ihnen zu danken.
Erinnerungsinventar
Die Fotos waren nicht geordnet, sie lagen zwischen Briefen und Negativen. Es gab auch ein Päckchen Arztrezepte. K. fand die blaue Schachtel durch Zufall hinter den Bänden seiner jiddischen Enzyklopädie, die in genau dem gleichen Blauton gehalten war. Als ob seine Tochter sie absichtlich dort hingestellt hätte, damit nur er sie fand. Oder sie versteckt hätte, damit niemand sie fand.
Als er seine Tochter auf den Bildern in Situationen und Umgebungen sah, die er sich nie hatte vorstellen können, merkte er ein weiteres Mal, wieviel von ihrem Leben er nicht gewusst hatte und noch immer nicht wusste. Abgesehen von den Fotos, auf denen sie mit ihren Freundinnen, die er gut kannte, posierte und den üblichen Aufnahmen von ihrem Arbeitsplatz, sie im Labor in einem weißen Kittel, gab es andere, überraschende.
Auf einem davon saß sie auf einem Pferd. An welchem Ort oder auf welcher Fazenda das wohl gewesen sein mochte? Auf einem anderen wirbelte sie tanzend im Kreis herum. K. hebt ein Foto nach dem anderen hoch und betrachtet alle Einzelheiten, diese wertvollen Spuren, diese Lebensfragmente seiner Tochter. Ohne Erfolg versucht er die Stadt im Hintergrund eines Fotos zu erkennen, das seine Tochter neben einem Musikpavillon mitten auf einem kleinen Platz zeigt.
Und erst jetzt begreift er, angesichts dieser Ausschnitte von Zeit und Raum, welch verletzliches Wesen seine Tochter gewesen war. K. hatte sich nie vorstellen können, dass Fotografien solch starke Gefühle hervorrufen konnten. Offenbar wollten einige davon sogar eine Geschichte erzählen. Das gelang in seinen Augen nur einem Puschkin oder einem Sholem Aleichem durch die Ausdruckskraft der Sprache. Ein Foto, hatte er immer geglaubt, war nichts anderes als eine auf Papier gebannte Episode, der Beweis, dass dieses oder jenes stattgefunden hatte, oder es war die Abbildung einer Person, ein Dokument sozusagen. Doch da gibt es nun Bilder von seiner Tochter, die Zartgefühl und Sensibilität ausdrücken. Als hätten sie ihre Seele eingefangen. Es lag etwas Geisterhaftes in diesen Bildern seiner nicht mehr lebenden Tochter, ein Schaudern überkam ihn.
Es waren nur wenige Fotos und nur auf einem war sie als Kind abgebildet, wie sie neben ihrem mittleren Bruder in einem Leiterwagen saß. Sie war vielleicht fünf oder sechs, er zehn oder elf Jahre alt, und er war schon viel zu groß für den Wagen. Die beiden schienen sich zu amüsieren. Ob es in einem Vergnügungspark gewesen war oder in einem öffentlichen Garten, dem Jardim da Luz?
Jetzt erinnert er sich. Genau, es war im Jardim da Luz. Er hatte die beiden dorthin begleitet. Wenige Augenblicke später hatte der Bruder sie in den See geschubst, als sie sich vornüber beugte, um die Karpfen zu betrachten. Dieses Spiel, das sie gedemütigt hatte, war typisch für die Beziehung der beiden. Das Foto mit dem Leiterwagen war von einem Straßenfotografen geknipst worden. K. war nie in der Lage gewesen, mit einer Kamera umzugehen.
In der Schachtel lagen auch Kopien von den zwei Fotos, die er schon hatte, das feierliche, vom Tag der Diplomübergabe, auf dem sie stolz, aber gedankenversunken wirkte, leicht von der Seite aufgenommen, sodass ihr kantiges Profil und ihr ernster Blick klar herausgearbeitet waren, und das andere, auf dem sie an einem Bett- oder Sofarand saß, die Wangen eingefallen, die dünnen Lippen zusammengepresst und im Blick entsetzliche Angst. Als handele es sich um zwei völlig verschiedene Personen, das wird K. nun in aller Deutlichkeit klar.
Beim Aufgeben der Vermisstenanzeige hatte er diese beiden Fotografien mitgenommen, bei der Polizei und anschließend bei diesem Arzt in Rio de Janeiro. Aus undurchsichtigen Motiven, doch wohl kaum, um sich von einer Schuld zu befreien, denn solche Menschen sind wie Tiere, ohne Vorstellung von Gut und Böse, hatte der Arzt sich bereit erklärt, seine Dienste zwecks Wiedererkennung verschwundener Oppositioneller anzubieten, die er im Verlauf der Foltersitzungen beobachtet
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