K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Sie spürt, dass Jesuína ein schwerwiegendes Geheimnis mit sich herumträgt. Sanft fragt sie:
»Haben Sie sich jemals wegen dieser Blutungen in Behandlung begeben? Haben Sie sich einer Therapie unterzogen?«
»Nein, ich habe nur eine Behandlung gemacht, um von den Drogen loszukommen. Nachdem der Fleury das Haus geschlossen hat, war ich auf einem Bauernhof in São Bernardo interniert. Er gehört den Patres, ich war sechs Monate dort, dann war ich gesund und der Fleury hat mir Arbeit in einer Kaserne in Quitaúna besorgt, aber da bin ich wieder abhängig geworden und kam nochmal in die Klinik, dann bin ich endlich davon losgekommen. Seit drei Jahren und sechs Monaten bin ich clean.«
Die Therapeutin lässt wieder ein paar Sekunden verstreichen und fragt:
»Sie haben viel von diesem Haus, das Fleury geschlossen hat, erzählt. Wie war dieses Haus, Jesuína? Wo stand es?«
Die junge Frau antwortet nicht.
»Jesuína, Sie müssen nicht alles auf einmal erzählen und auch nichts erzählen, das Sie nicht erzählen wollen, aber um gesund zu werden, müssen Sie sich der Vergangenheit stellen, Sie müssen all das, was sie peinigt, was zu diesen Halluzinationen und Blutungen führt, herauslassen; hat es etwas mit den Gefangenen in diesem Haus zu tun?«
Jesuína schweigt, ihre Schultern sind tief eingesunken.
»Jesuína, erzählen Sie mir ein wenig von diesem Haus, sagen Sie, was Ihnen durch den Kopf geht, an was Sie sich erinnern, lassen Sie es heraus, das wird Ihnen gut tun.«
»Es war ein Haus wie jedes andere auch, nur groß, es lag an einem Abhang, ganz oben auf dem Berg, in Petrópolis. Es war eine ganz normale Straße mit lauter großen Einfamilienhäusern von reichen Leuten, mit ebenso großen Gärten und Höfen; dieses hatte ringsherum eine hohe Mauer und war an der Seite von Wald begrenzt, man konnte nicht sehen, was drinnen passierte. Wenn die Wagen ankamen, ging das Tor automatisch auf, das Fahrzeug mit dem Gefangenen fuhr hinein, und er wurde sofort nach unten gebracht, da wo die Zellen waren. Es waren nur zwei Zellen. Ich war meistens oben, auf der Seite, die zur Straße ging. Im unteren Stockwerk gab es außer den Zellen auch noch einen abgeschlossenen Teil, wo sie die Gefangenen verhört haben, es war furchtbar mit den Schreien, bis heute höre ich diese Schreie, meine Alpträume sind voller Schreie. Noch weiter unten, in der Ecke des Hofes, fast am Ende des Abhangs, gab’s so etwas wie einen Lagerschuppen oder eine Garage. Ab und zu musste ich den abgeschlossenen Raum, wo die Gefangenen verhört wurden, sauber machen, aber zu dem Schuppen da unten haben sie mich nie geschickt …«
In sanftem Ton hakt die Therapeutin nach:
»Was ist dort unten passiert, Jesuína?«
Doch Jesuína stellt sich taub und fährt fort:
»… ich habe die Gefangenen bedient, die Zellen gesäubert, versucht, mich lieb Kind zu machen. Ihre Gesichter waren der Horror, die Augen aus den Höhlen getreten; sie zitterten, einige sprachen mit sich selbst, andere sahen aus wie tot, lagen halb ohnmächtig da … «
»Sie sagten, die Gefangenen seien nach ein paar Tagen verschwunden, wohin kamen sie denn?«
Keine Antwort.
»Sie haben von diesem anderen Bau dort unten gesprochen.«
Jesuína scheint sich nun zu erinnern, sie fährt wie im Selbstgespräch fort:
»An einem Tag brachten sie einen jungen Mann, der sah richtig gut aus, wissen Sie, schlank, nett, aber der Arme, sein Bein blutete, er hatte eine riesige Wunde voller Eiter, und anstatt sie zu versorgen, streuten sie Salz hinein … Er war drei Tage da, dann haben sie ihn dort runter gebracht … Sein Gesicht habe ich nie vergessen, so zart, so schön, die riesige Wunde am Bein, ihm habe ich wirklich geholfen, von Herzen, nicht nur so getan als ob, aber er bekam schon kein Wort mehr heraus … «
»Können Sie sich an seinen Namen erinnern?«
»Er war so nett. Er hat mir sogar seinen Vornamen verraten, Luiz; nur das, Luiz, und mir eine Telefonnummer gegeben, aber ich habe mich so sehr erschrocken, dass ich das Papier verloren habe, ich habe es nicht an Fleury weitergegeben, ich glaube, es war die Telefonnummer der Mutter … «
»Sie haben von dem da unten gesprochen …«
»Immer, wenn ein neuer Gefangener gebracht wurde, kam Doktor Leonardo, ein Arzt aus Rio de Janeiro; wenn es dem Gefangenen während des Verhörs nicht gut ging, ging er in diesen geschlossenen Raum und untersuchte ihn. Wenn Doktor Leonardo sich auf den Weg machte, wusste ich, es war zu Ende, mit
Weitere Kostenlose Bücher