K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Gefangenen gemacht, Jesuína?«
»Die Gefangenen wurden dort hingebracht, immer einzeln, und dann habe ich sie nie wieder gesehen. Vom Fenster oben konnte ich sehen, wie sie in die Garage gebracht wurden, aber ich habe nie einen herauskommen sehen. Nie kam ein Gefangener heraus. Nie.«
»Aber was war denn in dieser Garage, Jesuína?«
Jesuína presst beide Hände an den Kopf, als ob sie sich die Ohren zuhalten wollte und bleibt lange so sitzen, stumm, mit gesenktem Kopf; dann rückt sie ihren Stuhl nahe an die Therapeutin heran und flüstert, wie jemand, der ein Geheimnis weitersagt:
»Einmal war ich fast den ganzen Vormittag über allein in dem Haus, das PM-Doppel ist ganz früh mit dem Lastwagen losgefahren, sie haben gesagt, die Segeltuchsäcke seien alle, sie müssten ziemlich weit fahren, um sie zu besorgen, es könnte länger dauern. Der Fleury war schon am frühen Morgen wieder nach São Paulo abgereist. Ich allein war also für alles zuständig. Da bin ich dort runter gegangen, hab’s mir angesehen. Die Garage hatte kein Fenster, die Tür war mit einem Vorhängeschloss abgeschlossen. Eine Holztür. Aber ich habe durch ein Loch geguckt, das sie gebohrt hatten, um den Gartenschlauch durchzustecken. Ich habe diese Haken gesehen, wie beim Fleischer, einen großen Hacktisch und Messer, Sägen und Hackbeile, wie der Metzger sie benutzt. Die tauchen in meinen Alpträumen auf, ich sehe dieses Loch, Stücke von Menschen. Abgeschnittene Arme, Beine. Blut, sehr viel Blut.«
Jesuína beginnt zu schluchzen, am Anfang ein dumpfes Wimmern; dann wird das Weinen stärker, und von Krämpfen geschüttelt gleitet sie nach und nach vom Stuhl; bevor sie zusammenbricht, hält die Therapeutin sie fest und richtet sie auf, legt die Arme um sie. Auch sie weint.
Das Ende der Literatur
Seit dem Tag, als er andächtig jede einzelne Treppenstufe des Bischofspalais’ von São Paulo hinaufgestiegen war, um sich mit dem Bischof zu treffen, hatte K. mit dem Gedanken gespielt, seine Überlegungen und Beobachtungen aufzuschreiben, so stark waren die Eindrücke jenes Tages gewesen, ganz abgesehen von ihrer besonderen Symbolik, ein Oberhaupt der katholischen Kirche, genau dieser Kirche, die einen Torquemada hervorgebracht hatte, kam ihm jetzt entgegen und war zutiefst und ehrlich bemüht, seine Tochter zu finden, was nicht einmal die Rabbiner getan hatten.
Doch es gingen Tage und Wochen ins Land und er hatte nichts zu Papier gebracht. Jetzt bereut er es, wenigstens hätte er seine Kontakte und Suchaktionen in einem Tagebuch festhalten können. Jetzt, wo schon keine Hoffnung mehr besteht, wo er Mühe hat, seine Tage herumzubringen, da es schon nichts mehr zu suchen oder niemanden mehr anzusprechen gibt, bleibt ihm wirklich nur noch die Möglichkeit, sein Handwerk als Schriftsteller wieder aufzunehmen. Nicht, um Helden zu erschaffen oder sich Geschichten auszudenken, sondern um mit seinem eigenen Unglück fertig zu werden.
Er beschloss, sein größtes Werk zu schreiben, die einzige Form, mit all dem, was er vorher geschrieben hatte, zu brechen, dafür zu büßen, dass er der jiddischen Literatur so viel Aufmerksamkeit gewidmet hatte, dass er die Anzeichen für die Verstrickung seiner Tochter in eine militante Untergrundpolitik nicht wahrgenommen hatte, obwohl einige davon so auffällig gewesen waren, dass es sich zweifellos um versteckte Hilferufe handelte, die er, verblendet, nicht wahrgenommen hatte.
Er ging vor, wie er es immer tat: Auf kleine Pappen, die er sich aus den leeren Hemdenkartons zurechtschnitt, notierte er vereinzelte Beobachtungen in dem Augenblick, in dem ihm etwas auffiel; in einer zweiten Etappe würde er diese Pappstücke zu unterschiedlichen kleinen Häufchen aufschichten und der Erzählung, stets auf Jiddisch, eine Struktur verleihen – all das per Hand. Erst später würde er den Text auf seiner mit hebräischen Typen bestückten Schreibmaschine, die er aus New York mitgebracht hatte, tippen, so wie er es immer tat, wenn er Texte für Zeitungen und Zeitschriften schrieb.
Da die jiddische Sprache sich auf das hebräische Alphabet und gleichzeitig auf die deutsche Syntax stützte, sprachen ihre Gegner, unter denen sich sogar Ben-Gurion befand, von einer Monstersprache, dem Frankenstein unter den Sprachen. Die Monster sind sie, die in Erets Yisro’el eine so ausdrucksstarke Sprache so vieler großer Schriftsteller vernachlässigt haben, klagte K. wiederholt.
K. fügte verschiedene Karten mit den
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