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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Transit
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Haar ist weiß geworden, aber er steht straff und kerzengerade da, während er seine ehemaligen Kollegen und Kommandomitglieder unter die Lupe nimmt. Er betont ohne jede Emotion, als klassifiziere er eine Sammlung von Spinnentieren. Auf dem Tisch vor ihm liegt aufgeschlagen der Heeres-Almanach, das Verzeichnis sämtlicher Offiziere vom Leutnant aufwärts in den drei Truppengattungen des Heeres: Infanterie, Kavallerie und Artillerie.
    Sein jüngster Bruder, ein anerkannter Chirurg, hat viele der Unternehmer und Bänker, die in den verfluchten Staatsstreich verwickelt waren, operiert und ihnen möglicherweise das Leben gerettet. Ungeachtet dessen hat man den General nicht verschont. Die unrechtmäßige Entlassung hat seine kritische Wahrnehmung verstärkt und seine Zunge noch mehr gelockert, man merkt, dass er trotz seiner Zugehörigkeit zum Militär ein feiner Mensch ist.
    »Dieser andere verkauft nicht nur seine Mutter, sondern liefert sie aus.«
    Der Almanach gleicht einer Telefonliste. Abkürzungen in kleinen Buchstaben hinter jedem Namen bezeichnen die Stationen in der Laufbahn des Offiziers seit seinem Eintritt in die Militärakademie; jede Rangänderung wird vermerkt; jedes Ergebnis in der Kadettenanstalt und den Spezialausbildungen und Fortbildungsmaßnahmen ebenso. Unterteilt in drei Sektionen, für jede Truppengattung eine, das ist das Buch der militärischen Karriere.
    »Der hier war der Klassenbeste.«
    Einer, der in der Militärakademie den ersten Platz in seiner Klasse gemacht hat, wird für immer als »der Klassenbeste« bezeichnet. Doch welche Überraschung! Sollte die brasilianische Armee etwa so zivilisiert sein, dass Bildung und, warum nicht, Intelligenz darin das vorherrschende Prinzip darstellten? Oder fleißiges Lernen und Erwerb von Kenntnissen? Eine Armee, die der intellektuellen Leistung Priorität einräumt?
    »Wissenshungrig, nur die Angehörigen der Artillerie.«
    Die müssen sich mit Trigonometrie und Ballistik auseinandersetzen, den Schusswinkel berechnen unter Berücksichtigung von Windrichtung, Kaliber und Nutzlast sowie der Feindbewegung. Das sind Gleichungen mit mehreren Unbekannten. Sie haben gelernt, logisch zu denken. Deshalb sind sie zur Führungstruppe innerhalb der Armee aufgestiegen; die einzigen, die über eine strategische Sicht verfügen. Sie haben den Militärputsch vorbereitet und durchgeführt.
    »Der Rest ist eine Horde von Ignoranten, die Schlimmsten sind die von der Kavallerie.«
    In einer Armee, die seit fünfunddreißig Jahren keinen Krieg führt, gibt es keine Orden für den Mut auf dem Schlachtfeld, keine gefährlichen Einsätze, nicht einmal den Test der Extremsituation, sei es für die Einheit oder das Individuum. Das Einzige, was es gibt, ist das Punktesammeln im Klassenraum, das zackige Salutieren, die glattgebügelte Uniform, die gewichsten Stiefel; das rhetorische Reich der hypothetischen Kriege, die nie stattfinden werden, und die Vorstellungswelt der Logistik. Alles auf dem Papier, in der Theorie. Schubfächer über Schubfächer voller Landkarten und Pläne zum strategischen Angreifen, taktischen Vorrücken und Abrücken.
    »Die wichtigste angenommene Hypothese war ein Krieg gegen Argentinien, alles Blödsinn, nur um sie bei der Stange zu halten.«
    Für jeden Abschnitt dieses langweiligen Militärdaseins gibt es ein minutiöses Punktesystem. Posten als Kommandeur, Posten als Abteilungsführer, alles fließt in die Rechnung mit ein. Aber wie in jeder hierarchischen Organisation sind die Regeln nur dazu da, um immanente Gefälligkeiten zu legitimieren, nie, um das Leistungsprinzip durchzusetzen. Entscheidend sind die Freundschaften. Die Loyalitätsbande. Nicht die ehrliche Loyalität, die keine Rechtfertigungsgründe braucht. Es ist eine kalkulierte Loyalität, die nötig ist zum Überleben in dem Binnenkrieg um die Beförderung. In diesem Heer von Opportunisten werden die einzigen Kämpfe vom Individuum gegen seinesgleichen in dem Gerangel um den Aufstieg ausgefochten. Je höher man in der militärischen Rangskala aufrückt, um so dünner sind die Posten gesät.
    »Der engste Flaschenhals befindet sich beim Übergang vom Oberst zum Brigadegeneral. Nur einer von fünfzig Obristen wird General. Und dann womöglich entlassen.«
    Bei diesen Schreibtischmilizen werden die Verluste nicht in dem Theater, genannt Krieg, verzeichnet; sie stehen in den Listen, die der Generalstab den militärischen Dienststellen zuleitet, damit die Beförderungen entschieden werden.

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