K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
niedergeschriebenen Episoden, Dialogen und Szenarien zusammen. Doch als er sie in eine kohärente Erzählform bringen wollte, funktionierte etwas nicht. Er vermochte es nicht, den Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die ihn in vielen Lebenssituationen überwältigt hatten, zum Beispiel während der Begegnung mit dem Erzbischof.
Es war, als ob das Wesentliche fehlte; als ob die Worte, obwohl gezielt ausgewählt, anstatt die Tragweite dessen zu transportieren, was er fühlte, im Gegenteil die wichtigste Bedeutung verbergen oder herauslösen würden. Es gelang ihm nicht, sein Unglück auszudrücken mittels der beschränkten Semantik des Wortes, des allzu präzisen Ausschnitts des Begriffs, der Vulgarität des idiomatischen Ausdrucks. Er, der preisgekrönte Dichter der jiddischen Sprache, konnte die angestrebte Transzendenz nicht über die Sprache erreichen.
Lag es etwa an einer Unzulänglichkeit des Jiddischen selbst? Gelang es einem derart misshandelten Volk nicht, das Leid über die eigene Sprache auszudrücken? Obwohl erst in den letzten hundert Jahren eine wahre jiddische Literatur entstanden ist, war die Sprache doch schon tausend Jahre alt und wurde vor dem Holocaust von mehr als zehn Millionen Menschen gesprochen.
Außerdem, überlegte K., wenn das Jiddische eine Sprache der zärtlichen Diminutiva war, die angestammte Sprache von Handwerkern und ganz armen Leuten, von Kutschern und fliegenden Händlern, gab das umso mehr Anlass, seine Gefühle auf Jiddisch auszudrücken; man denke an die Erzählungen von Sholem Aleichem und Bashevis Singer.
Aber es gelang ihm nicht. Ob das Jiddische zu prüde war, um die Obszönität zu beschreiben, die ihm widerfahren war? Schimpfwörter stießen ihn ab, wie seine ganze Generation, die im kheyder erzogen worden war; selbst wenn sie die Religion ablegten, konnten sie sich nicht von diesem sprachlichen Schamgefühl freimachen.
Allmählich wurde sich K. bewusst, dass es um ein größeres Hindernis ging. Klar, immer beschränkten die Wörter das, was man sagen wollte, aber das war nicht das Hauptproblem; seine Blockade war moralischer, nicht sprachlicher Natur: Es war falsch, die Tragödie seiner Tochter zum Gegenstand literarischen Schaffens zu machen, nichts konnte falscher sein als das. Eitelkeiten nähren, indem man so etwas Hässliches mit schönen Worten beschrieb. Zumal er wegen dieses verdammten Jiddisch nicht fähig gewesen war, zu sehen, was sich direkt vor seinen Augen abgespielt hatte, die Anstrengungen seiner Tochter, um zu verhindern, dass er sie besuchte, ihre plötzlichen Reisen, ohne zu sagen, wohin.
Er erinnerte sich an den Tag, an dem sie eilig – vielleicht verschreckt – in ein Samstagstreffen mit den Schriftstellern hineingeplatzt war und er sie zurechtwies, ohne ihr in die Augen zu sehen, ohne herausfinden zu wollen, was sie wollte. Man stelle sich vor, eine solche Episode zu Literatur machen zu wollen – ganz und gar unmöglich!
In jener Nacht zerriss K. die Karten mit den Notizen; er zeriss sie in kleine Stücke, damit nichts davon übrig blieb, und warf alles in den Papierkorb. Er schwor, niemals mehr etwas auf Jiddisch zu schreiben. Fast hätte er Ben-Gurion zugestimmt, der das Jiddische als Sprache der Schwachen angeprangert hatte, derjenigen, die sich abschlachten ließen, ohne aufzubegehren, so als hätten sie bereits die Strafe für eine bewusste oder unbewusste Schuld erwartet.
Auch ein Zufall verhalf ihm zu dieser Entscheidung: Er wollte seinen Enkelinnen in Erets Yisro’el alles erzählen, was geschehen war. Und die Enkelinnen konnten kein Jiddisch, nur Hebräisch. In der gleichen Nacht schrieb K. seiner Enkelin in Erets Yisro’el den ersten Brief, in einem fehlerfreien Hebräisch, wie er es als Kind im kheyder gelernt hatte. Nun war er nicht mehr der renommierte Schriftsteller, der aus dem Unglück seiner Tochter Literatur schuf; er war der Großvater, der eine Familientragödie für seine Enkel niederschrieb.
Das Handbuch des Militärlebens
»Der verkauft seine eigene Mutter.«
Der Mann ist präzise und verleiht seinen Worten Nachdruck, wie man es von einem Vier-Sterne-General erwartet. Aus Gewohnheit greift er auf eine derbe Bildsprache zurück, denn in der Kaserne hat das zum guten Ton gehört. Ausgebildet, um zu kommandieren, spricht er knapp und grob, wenn er auch mittlerweile keine Befehle mehr erteilt. Er ist vom Heereskommando abgelöst und aus der Armee entlassen worden, weil er sich dem Militärputsch widersetzt hatte.
Sein
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