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Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
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Old Street, wo er ein Taxi anhält.
    Während der Fahrt spricht sie kein Wort. Als sie in der Rugby Street ankommen und Serge sie die Treppe hinaufführt, starrt sie stur vor sich hin. Kaum in der Wohnung, wirft sie sich auf sein Bett und beginnt zu schluchzen. Er setzt sich zu ihr und legt ihr eine Hand auf den Rücken, doch sie schüttelt sie ab. Das Schluchzen dauert noch eine geraume Weile an, dann beruhigt sie sich, hält aber weiterhin das Gesicht von ihm abgewandt, vergräbt es in den Kissen und weint still vor sich hin. Serge bleibt lange sitzen und sieht zu, wie sich ihr Rücken hebt und senkt. Er kommt ihm massiger vor,
so als wäre ihr das Gewicht, das ihr Körper der Geisterwelt mittels der zwiefachen Kraft von Glaube und Liebe übertragen hatte, ungewollt zurückerstattet worden. Selbst das Haar sieht schwerer aus, wie von Trauer gefettet. Bluse und Rock sind zerknittert. Alles an ihr ist solide, schwer und sackt nach unten. Aber selbst wenn sie an Masse und Gewicht zugelegt haben sollte, ist ihr doch auch etwas genommen worden: Trotz ihrer Kleider nämlich wirkt sie entblößter, als sie je nackt gewirkt hat, fast, als wäre ein Glaube von ihr abgefallen, der sie bislang umhüllte – der Glaube daran, in einen größeren Stromkreis eingebunden zu sein, in ein lichtes, pulsierendes Feld schimmernder Transformationen, durch das Michael vielleicht einen Weg zu ihr gefunden hätte –, und ließe sie hüllenlos in der Welt zurück, in dieser Welt, der einzigen Welt, in der ein Tisch nur ein Tisch ist und Gemälde und Photographien nur Bilder aus Materie sind, in der Drachen an Spielzimmerwänden unerinnert und die Toten tot bleiben.
    Schließlich schläft sie ein. Noch immer wütend verlässt Serge die Wohnung und läuft durch die Straßen. Er ist wütend auf Miss Dobai und ihre Bande, auf die Gutgläubigen im Publikum, auf sich selbst, weil er so grausam zu Audrey war. Beinahe zwangsläufig zieht es ihn zum Triangle, er bleibt eine Weile bei Mrs Fox, schaut bei Woolbridge vorbei, dann beim Tierpräparator. Da er einen Ort braucht, an dem er sich ungestört die inzwischen beträchtliche Ernte seines Beutezugs einverleiben kann, aber nicht heimkehren oder sich auf eine schmuddelige Toilette zurückziehen will, läuft er zum Keller in Holborn, in dem der Wagen seines Vaters steht (über den er bereits seit zwei Wochen wieder leihweise verfügen kann). Er holt sich den Schlüssel von einem Wachmann, dessen Uniform, wie ihm im Vorübergehen auffällt, jener der Platzanweiserinnen im Empire ähnelt, und setzt sich auf den Fahrersitz, um im dunklen, säulengestützten Gewölbe
zu spritzen und zu schniefen, spritzen, schniefen, spritzen, schniefen, mehr und immer mehr, um so die Wut zu betäuben. Doch die Wut verraucht nicht, nein, von allen Seiten dringt sie auf ihn ein. Und er beschließt, dass er die Dinge in Bewegung setzen muss.
    Er lässt den Motor an und fährt aus der Garage in Richtung Südwesten durch Chelsea, Wandsworth und Wimbledon. Er weiß nicht, wo er ist oder wohin er fährt. Ihm ist es auch egal. Es kommt nur darauf an, die Dinge in Bewegung zu setzen, damit sie für ihn erneut reglos werden, damit er Stasis in Bewegung findet. Grün, Blau, Schwarz fliegen vorbei; manchmal flicht sich ein verärgerter Schrei ins Luftgewebe, eine Hupe, deren Ton im Vorüberfahren anschwillt und verklingt. Die Farben rasen immer dichter vor ihm dahin; das Gewebe wird zu einem Schirm, einem fixen Bildrahmen, durch den Himmel und Landschaft rasen, näher, immer näher: Bald ist es, als würde er das projizierte Bild nicht mehr bloß sehen, sondern sich mit dem Gesicht gegen den Schirm selbst pressen. Gar in ihn hinein. Irgendwie wird der Raum um ihn herum zur Materie. Und es ist nicht länger allein der Wind, der ihm ins Gesicht peitscht: Die zu Braun verlaufenen Farben stürzen auf ihn ein, zerkratzen ihm die Haut, pressen sich ihm in den Mund. So etwas wie eine Inversion geschieht, der Schirm hat sich gedreht, ist jetzt über ihm, und aus ihm dringt der Lärm von berstendem Metall. Das Geräusch fährt wie aus einer überhöhten Welt auf ihn herab, klingt wie ein großer Eisendeckel, der über ihm geschlossen wird. Dann ist es still. Er ist jetzt in einer Art Unterwelt: ein Maulwurf, und wie Schubladen und Schränke vollgestopft mit alter, vertrauter Substanz.
    »Wieder Erde«, murmelt er, schmeckt sie im Mund. Brocken davon hüpfen ihm über die Lippen, als er zu lachen beginnt. Das Gelächter prallt vom Boden

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