K
herausgerissen sind, von Einschüssen durchlöcherte oder halb eingefallene Fassaden.
»Die Aufstände vom letzten Jahr«, sagt Petrou zu Serge.
»Das da auch?«, fragt Serge, als sie vor der Börse an einer Reihe zerstörter Geländersäulen vorbeikommen.
»Nein, das war die Revolte von 1919. Die Börse musste ein paar ziemlich üble Treffer einstecken.«
»Und das da?«, fragt Serge wenig später, als sie an einem Haufen riesiger, kreuz und quer übereinanderliegender Sockelplatten auf einem brachliegenden Grundstück der Rue Stamboul vorbeikommen.
»Der Bombenangriff von 82 – aber die da«, fährt Petrou fort und zeigt auf die ältesten Brocken, »wurden vermutlich aus einem anderen Gebäude herausgerissen, als die Perser im siebten Jahrhundert die Gegend plünderten; oder sie sind noch älter, aus der Zeit, als Octavian Antonius in die Flucht schlug. So ist das nun mal in Alexandria: Die Epochen verschmelzen einfach …«
Petrou arbeitet im Ministerium für Kommunikation. Seine Aufgabe ist es, Namen zu koordinieren. Für jede Straße, jeden Platz in der Stadt scheint es nämlich drei verschiedene Bezeichnungen zu geben, auf Englisch, Französisch und Arabisch – außerdem tobt eine Debatte darüber, ob man in den
offiziellen Stadtplänen die arabischen Namen auf Französisch oder Englisch wiedergeben soll; und da es drei englische Systeme gibt, die jeweils von rivalisierenden Regierungsstellen befürwortet werden, streitet man auch darüber. Petrou selbst spricht ungefähr sieben Sprachen. Er ist Brite, zumindest dem Gesetz nach, auch wenn er nie in Großbritannien gelebt hat, sieht man einmal von einem Kindheitsaufenthalt in Liverpool ab. Seine Familie stammt aus Griechenland, wohin sie via Byzanz, vielleicht auch Triest, Odessa oder die Levante kam, doch hat er an diesen Orten ebenfalls nie gelebt. Allerdings scheint er die Idiome und Gemütslagen der in seiner Familiengeschichte verborgenen Städte, Nationen, Inseln und Heimatländer im Exil oder im Wartezustand in sich aufgesaugt zu haben und kann sie zur Zufriedenheit der bosnischen Blumenhändler wiedergeben, der weißrussischen Schneider, syrischen Weber, armenischen Sattler, preußischen Zimmermänner, zypriotischen Kurzwarenhändler und italienischen Waffenschmiede, die er, mit Serge im Gefolge, zwecks Sammlung von Zensusdaten täglich aufsucht, um so Straßenzug für Straßenzug ein linguistisches Profil der Stadt zu erstellen.
»Heute mache ich epsilon bis theta «, erzählt er Serge, während sie türkischen Kaffee und dazu ein Glas Arak trinken, das dem »lieben Morgane« (die Händler reden ihn allesamt mit einer Variante seines Vornamens an, mit Morgané, Morjan, Morganowitsch) und dessen »neuem Freund« von einem freundlichen Cafébesitzer aufgedrängt worden war.
»Gestern war es alpha bis delta «, erwidert Serge. »Hört sich an, als würden wir das ganze Alphabet ablaufen.«
»Die Straßen wurden hier immer schon so eingeteilt«, erklärt Petrou und setzt nach kurzer Pause hinzu: »Diese Gegend und die Buchstaben, die haben eine lange gemeinsame Geschichte, denn hier haben die Kopten im vierten Jahrhundert ihr Alphabet erfunden, als sie gesprochenes
Ägyptisch mit griechischen Lettern wiedergaben und denen dann Hieroglyphen hinzufügten. In dieser Stadt hat alles angefangen: Kulturen und Sprachen prallen aufeinander, und Neues entsteht. Hier ist auch der Beginn jeglicher Koordination: Nach Rosette ist es nur eine kurze Bahnfahrt. Das muss man sich mal vorstellen: eine einzige Granitplatte, die alle Sprachen zusammenbringt; ein zweites Babel auf einem gut einen Meter hohen Stein. Die Rue Rosette ist übrigens meine Lieblingsstraße in Alexandria, allein schon wegen des Namens. Wie dumm, dass sie den auch ändern wollen …«
Serge arbeitet ebenfalls für das Ministerium für Kommunikation. Auf der Fahrt von Versoie nach London in Widsuns Wagen hatte ihm sein Patenonkel erklärt, worin seine Aufgabe bestehen würde: einen Bericht erstellen (notfalls auch mehrere), der auf eine ihm jetzt noch nicht ganz ersichtliche Weise den Bau der (größtenteils noch in der Planung befindlichen) Kette von Sendestationen quer durch das ganze Empire vorbereiten, befördern, beschleunigen oder ihm sonst wie den Weg ebnen soll.
»Das ganze Projekt ist schon vor Jahren in Gang gesetzt worden«, erzählte ihm Widsun auf dem Rücksitz des von einem Chauffeur gelenkten Ford. »Bereits 1914 wurden die Lizenzen für die ägyptischen Stationen erteilt.
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