K
Alexandrier – ist Liebe ihr Untergang: Zu heftig sehnt sie sich danach, mit Gott vereint zu sein, und zerfällt deshalb zu Materie; aus ihrer Todesqual und ihrer Reue ist unser Universum geformt.« Wieder wandert Petrous Blick auf Serges Brust, und er fährt fort: »Ein unbekannter Theologe, doch ebenfalls Alexandrier, schrieb: ›Sie ist schöner als die Sonne und jedes Sternenbild, strahlender als das Licht …‹«
Der Abend bricht an; es ist schummerig in den Sälen und Korridoren des Museums. Reglos verharren die beiden Männer, Petrou seitlich Serge zugewandt, der Blick auf seine Brust fixiert – als wären sie selbst ebenfalls Skulpturen, synkretistische Überlagerungen von Äonen und Mythologien, von Göttern, Sterblichen und deren Überresten. So bleiben sie, bis Petrou mit schwächer werdender Stimme fortfährt: »›Denn danach bricht die Nacht herein …‹«
Seine Worte verhallen. Serge kehrt sich von ihm ab, schaut zum Fenster und sieht draußen im Halbdunkel einen Leuchtkäfer in Punkten und Strichen pulsieren.
II
Der Zug fährt durch die Sodafelder von Wadi Natrun. Weil Serge an mindestens zwei Sitzungen teilgenommen hat, in denen darüber verhandelt wurde, weiß er, dass die Rechte
am Natronabbau bei der ägyptischen Salz-und-Soda-Gesellschaft liegen – doch tut es gut, eine abstrakte Geschichte von Bestechung, Betrug und Inkompetenz mit einer konkreten Landschaft verbinden zu können. Zwischen dem im Hitzeglast flackernden, grauen Koloss einer Fabrik und vereinzelten Klöstern erstreckt sich ein riesiger Mineralsee. Trotz der Fieberglut da draußen scheint ihn eine Eisschicht zu bedecken, mehr noch, auf dem Eis sind rosa Flecken zu sehen, als wären dort Robbenbabys zu Tode geknüppelt worden. Weinrote Tröpfelrinnsale verbinden diese Flecken mit blauen und grünen Teichen. Über den in diversen Rottönen schimmernden, vielfarbigen Streifen stehen unfassbar große Vögel, hocken auf Salzklumpen, die wie gewaltige Eisberge aussehen.
»Eine Fata Morgana«, sagt der Schotte, Serges Abteilnachbar, als er dessen faszinierten Blick bemerkt.
»Eine Illusion also?«, fragt Serge. »Da sind keine Vögel?«
»Nein, da sind schon Vögel, aber sie werden vom Licht verzerrt und vergrößert. Das Salz ebenso.«
»Sie sehen es also auch?«
»Wir sehen beide, was der auf die wärmeren Luftschichten auftreffende Lichtgradient unserer Netzhaut übermittelt.«
»Und die rötliche Farbe?«
»Natronablagerungen, die an die Oberfläche steigen.«
Wie sich herausstellt, ist der Mann von Beruf Optiker. Er zeigt Serge seine Anzeige in der Gazette (sein Firmenzeichen ist ein hieroglyphisches Augensymbol neben einer verdächtig anachronistisch aussehenden Brille im selben Stil), vertieft sich dann erneut in seine Zeitung und taucht nur gelegentlich dahinter wieder auf, um einen Kommentar zum Gelesenen abzugeben, mit dem er meist nicht einverstanden ist.
»Sie greifen wahllos irgendwelche Europäer an«, schimpft er. »Hier steht, bei Damiette hätten sie einen ganzen Zug
angehalten und weiße Männer wie Frauen den ›schlimmsten Unannehmlichkeiten‹ ausgesetzt.«
Auch ihr Zug wird aufgehalten, allerdings nicht vom Mob, sondern von einer Baustelle auf der Shouba-Brücke. Als sie Kairo schließlich erreichen, bricht fast schon der Tag an. Vorbei an Mini- phare- Laternenpfosten, die kleine, phosphorgelbe Lichtzylinder auf den Bürgersteig werfen, macht Serge sich auf den Weg ins Ministerium. Er findet es in einem so riesigen Gebäudekomplex, dass ihm die Zweigstelle in Alexandria dagegen geradezu winzig erscheint: Hier sind die Ministerien für Einkünfte ohne bestimmten Verwendungszweck, für Staatsbesitz, öffentliche Einrichtungen, Justiz, Bewässerung, Häfen und Beleuchtung, Pensionen, Unterrichtswesen, Antiquitäten, für die Besatzungsarmee, für den Suezkanal – und irgendwo mittendrin versteckt auch das Ministerium für Kommunikation und Nachrichtenwesen. Der ganze Komplex scheint gerade gründlich überholt zu werden: Büroräume sind leer, ihr Inhalt steht in Kisten verpackt auf den Fluren; Schreibmaschinen, allesamt Coronas, stapeln sich an den Wänden und warten auf ihre Verlegung, vielleicht auch ihre Ausmusterung; zielstrebig und angespannt hasten Leute über die Flure und versuchen, andere Leute ausfindig zu machen, die auf angrenzenden Fluren nach jemand anderem suchen. Sooft Serge auch stehen bleibt, um jemanden zu fragen, erntet er bloß ein entnervtes Schulterzucken, und nur durch Zufall
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