K
der ersten Nacht gleitet sie an der Obstwiese vorbei und verschwindet aus seinem Blickfeld. Serge schaltet die Empfangsstation ab, zieht sich rasch einen Pullover über, läuft die Treppe hinunter und öffnet die Haustür. Im Krypta-Park holt er sie ein, wo sie langsam, zaudernd durchs hohe Gras streift.
»Sophie«, ruft er, während er sich ihr von hinten nähert.
Sophie macht noch zwei Schritte, dann bleibt sie stehen und dreht den Kopf leicht in seine Richtung.
»Was machst du hier?«, fragt er.
Sie bleibt so stehen, den Kopf ihm halb zugewandt, als zöge sie es vor, ihn nicht zu sehen, nur zu spüren – etwa mit der Haut ihrer Wangen oder den Nackenhärchen. Er wiederholt die Frage.
Nach einer Weile antwortet sie: »Suche nach dem Balkankäfer.«
»Was soll das denn sein?«
»Eine Art fliegendes Insekt, von Percy Pilcher gemacht«, antwortet sie gedankenverloren und richtet den Blick nach unten, aufs Gras – dann strafft sie sich, als sähe sie etwas zwischen den Halmen kauern. »So viele Segmente«, murmelt sie. »Geborstene Leiber.«
»Wo?«, fragt Serge.
»Überall«, erwidert sie. »Wenn eine Antolie-Kolonie die andere angreift, werden die Opfer in Stücke gehackt und Glieder und Torsi auf dem Schlachtfeld liegen gelassen.«
»Was ist eine Antolie-Kolonie?«, fragt Serge.
Langsam wendet sie den Kopf wieder vollends von ihm ab und geht zum hohen Gras hinüber – gravitätisch, die nackten Beine so übertrieben angewinkelt, als hätte sie die Gelenke eines Insekts.
»Du wirst dich noch erkälten«, ruft er ihr nach und geht zurück zu seinem Funkgerät.
Am nächsten Tag scheint sie tatsächlich krank zu sein – wenn auch nicht erkältet. Sie sieht noch elender aus, so als wäre sie vor lauter Müdigkeit vollkommen erschöpft und zugleich von manischer Zielstrebigkeit belebt.
Als Serge sich in ihr Labor schleicht, kritzelt sie vor sich hin und zeichnet wie besessen die Anatomie einiger aus Bodners Garten gepflückter Blumen, die seziert vor ihr auf dem Tisch liegen.
»Die Ovarien«, murmelt sie ihm über die Schulter zu. »Hier körnen die Pollen, und die Utrikuli dringen in deren Höhlung ein.«
Er schaut genauer hin und sieht, dass sie mit dem Skalpell die Korolla geöffnet und die Außenhaut abgezogen hat, sodass der Griffel steif und lang hervorsteht. Jetzt schabt sie die flache Membran ab, sammelt das Sekret mit der Klinge ein und schmiert es auf einen Objektträger. Dann schaut sie zur Wand. Serge folgt ihrem Blick und entdeckt über dem Seziertisch das Wort »Uterus«. Darüber, aus dem heutigen Daily Herald gerissen, die Schlagzeile: »Jungtürken attackieren Armenier«. Neben der gedruckten Zeile hat Sophie in Klammern »Anatolien« geschrieben.
»Anatolien«, liest Serge laut vor. »Hast du das nicht…«
»Pssst!« Sophie hält eine Hand hoch, und die beiden erstarren für einen Moment: Sie sitzt da mit dem Skalpell in der Hand, Mund offen und die Ohren gespitzt, als lausche sie auf etwas; er steht hinter ihr, den Kopf über ihren Schultern, und atmet den Duft ein, der von ihrem Haar und Körper aufsteigt. Nach einer Weile dreht sie sich zu ihm um und sagt: »Komm heute Nacht und suche mich.«
»Hier?«, fragt Serge. »Oder im Krypta-Park?«
Sie deutet mit unbestimmter Geste auf das riesige Diagramm an der Wand, als wollte sie »Wo auch immer« sagen, und gibt ihm dann zu verstehen, dass er gehen soll.
Als er in jener Nacht im Äther fischt, stellt er sich Tracheen vor und Staubgefäße, die hoch aufragen und wie hungrige Antennen an den Himmel klopfen, dazu geschellackte Setae, die sich wie Abstimmspulen um segmentierte Abdomen winden. Hin und wieder schaut er aus dem Fenster und hofft, einen Blick auf Sophie zu erhaschen, wie sie seidig über den Maulbeerrasen gleitet, doch hat er kein Glück. Gegen drei Uhr macht er sich auf den Weg in ihr Labor. Es ist leer und riecht nach vergammelten Broten, alter Limonade, Blumen und Insektensekreten, ein Geruch, der von den auf Regalen lagernder Chemikalien überdeckt wird. Serge meint, letzteren Geruch halb aus der Zeit zu erinnern, als er in diesem Zimmer mit Sophie Substanzen mischte – aber eben nur halb: Diese Chemikalien hier sind raffinierter, sind echte Chemikalien, von den Regalen im Imperial College entliehen, aus Kästen, gehütet von weiß bekittelten Männern, die mit Sophie in einer Sprache kommunizieren, die für ihn viel zu kompliziert ist. Sie hätten ihr Schaubild verstanden, denkt Serge, während er auf die Wand
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