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Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
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war ihr am nächsten, doch immer noch achtzig Kilometer entfernt. Galway hatte den Notruf aufgefangen, ebenso Le Havre, Malin, Poldhu und nahezu jedes Schiff zwischen Southampton und New York. Fünfzehn Minuten, nachdem das Signal bei Serge
eingegangen war, hatte auch die Hälfte aller Abhörstationen in Europa ihre Empfänger auf diese Frequenz ausgerichtet. Die Admiralität wies die Amateurfunker an, den Äther nicht zu blockieren. Die atmosphärischen Störungen waren in dieser Nacht schlicht grauenhaft. Doch bis zum frühen Morgen lauschte er dem Jaulen und Knistern und hörte – oder meinte doch zwischen den Pausen und Funklöchern hören zu können – , wie Menschen im kalten, schwarzen Wasser zappelten und mit den Händen kleine Wirbel in die Wellen schlugen, die aufgekommen waren, sie zu begraben.
    II
    Eines Nachts, so gegen halb drei, blickt Serge aus dem Schlafzimmerfenster und sieht eine weiße Gestalt über den Maulbeerrasen gleiten. Sie erinnert ihn an Sophie; er beugt sich hinaus, aber die Gestalt verschwindet, ehe er erkennen kann, um wen es sich handelt. Der Vorfall erschreckt ihn – nicht zuletzt, weil er ihm in der realen, konkreten Umgebung des Hauses einen Aspekt gewisser Szenen vorführt, die er gelegentlich, wenn er die höchsten Frequenzbereiche absucht, intuitiv erkennt, aber nie ganz zu fassen bekommt: vage Impressionen von Leibern, die unmittelbar jenseits der Schwelle zum Sichtbaren schweben und Signale senden, die nie völlig vom sie umgebenden Lärm zu trennen sind – wichtige Signale, deren Widerspenstigkeit eben deshalb umso frustrierender ist. Er sieht diese Dinge ziemlich oft, hört sie auch, hört sie zumindest halb, meist dann, wenn er auf der wellenlangen Grenze zwischen Schlaf und Wachen schwankt. Doch heute Nacht ist diese weiße Gestalt keine somnambule Vision: Sie ist echt, von Größe und Aussehen her wie Sophie, und obendrein so angezogen, wie sie sich anzieht, wenn sie abends zu Bett geht.
Am nächsten Tag sucht er sie in ihrem Labor auf und fragt, ob sie am Abend zuvor im Nachthemd umhergeirrt sei.
    »Was geht’s dich an?«, fragt sie. »Und wer hat gesagt, dass du hier hereinkommen darfst?«
    »Kann ich hereinkommen?«
    Sophie zuckt mit den Achseln und wendet sich wieder der Arbeit zu. Seit ihrer Rückkehr aus London, wo sie seit zwei Semestern am Imperial College Naturwissenschaften studiert, hält sie sich fast ohne Unterbrechung in diesem Raum auf. Fächerförmig wie ein Kartenblatt ausgebreitet liegen vor ihr auf dem Tisch diverse, mit unterschiedlich gefärbten Substanzen beschmierte Mikroskop-Objektträger, darum herum – wie von unsichtbaren Gegnern verteilte Spielmarken, vielleicht auch wie die Miniaturgegner selbst – liegen Insekten, tote Insekten: Käfer, Grashüpfer und Libellen, steif wie der Hund-Avatar im Maklerspiel. An die Wand darüber hat Sophie Tabellen, Diagramme und in ihrer Handschrift verfasste Anmerkungen gepinnt. Es scheint ihr nichts auszumachen, dass Serge sich vorbeugt und ein paar davon liest:
    Ich habe ein Exemplar der Spezies Helochara
in ein Glas gelegt …
    heißt es da unter anderem,
    … und in seine Zelle eine Mischung
aus Pottasche und Äther geträufelt, bis es auf
den Rücken kippte und tot zu sein schien; als ich
es aber mit etwas Ammonium besprenkelte,
hat es sich wieder vollkommen erholt.
    Woanders steht:
    Aphrophora spumaria kapseln sich vollständig
in eine schaumige Hülle zähflüssiger Zellen ein.
Die Bläschen umhüllen nicht nur das Insekt
und den Stängel, auf dem es sitzt; sie bilden
auch einen lückenlosen Seim zwischen
Ventralplatten und Hinterleib.
    Neben diesem Text zeigt die mit Anmerkungen versehene Skizze eine Art Zecke inmitten eines Häufleins von laichartigem Schaum. Serges Blick wandert zu einer der Tabellen. Unter der Überschrift »Giftige Eigenschaften von« verknüpft eine komplizierte Anordnung von Linien – geraden, geschwungenen, punktierten – einzelne lateinische Worte und Buchstaben miteinander. Serge, den Kopf voller Morse-Kode, erinnern sie an Rufzeichen. Und es sind nicht nur die Verbindungen, die diesen Gedanken in ihm wecken; Sophie hat einzelne Buchstaben der diversen Wandtexte markiert und mit gelber, blauer oder dunkelroter Kreide hervorgehoben, als verfolge sie von einem zum anderen eine Art Kontinuum, eine bedeutungsvollere alphabetische Abfolge, die sich erst nach und nach aus diesem ganzen eklektischen Netzwerk ergibt. Am faszinierendsten aber findet er eine Studie des

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