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Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
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Kleinen Nachtpfauenauges, versehen mit einer Illustration der Vibrationsfähigkeit seiner Antennen und dem in Klammern an den Rand geschriebenen Wort »Morse«.
    »Morse?«, fragt Serge. »Können Schmetterling morsen?«
    »Was?«, murmelt sie – folgt dann seinem Blick und knurrt verächtlich: »Blödsinn, kein Zusammenhang. Professor Morse, ein Entomologe aus Nanterre in Frankreich.«
    Mit mehr rückt sie nicht heraus und wendet sich wieder dem Objektträger auf dem Tisch zu. Sie wirkt bedrückt – nicht mehr sprühend vor Energie, wie sie sich sonst auf ihre chemischen Experimente zu stürzen pflegte, sondern als plage sie
ein Gemenge aus Besorgnis und Grübelei. Sie sieht mitgenommen aus, viel älter als noch vor sechs Monaten; und als Serge auf ihre Wangen starrt, bemerkt er Sorgenfalten, die sich von ihren Augen hinab zu den Mundwinkeln ziehen.
    »Was glotzt du so?«, faucht sie ihn an. »Verschwinde, ich habe zu arbeiten.«
    Sie arbeitet am nächsten Tag, auch in der nächsten Nacht und am Tag danach. Serge beginnt sich zu fragen, wann sie schläft oder ob sie überhaupt jemals schläft. Kommt er spät am Vormittag zum Frühstück nach unten, ist sie schon fort, nur ein paar Brotkrümel und ein butterbeschmiertes Messer bezeugen, dass sie in der Küche war – außerdem die ausgeweideten Zeitungen, die sie auf dem Tisch liegen lässt, nachdem sie alle Schlagzeilen herausgerissen hat, die aus irgendeinem Grund ihr Interesse weckten. Da ihr Vater auf einer Konferenz über den Unterricht für Taubstumme in London (»Eure Züge müssen aneinander vorbeigefahren sein«, erklärt Serge seiner Schwester bei ihrer Ankunft trotz deren offensichtlicher Gleichgültigkeit) und Mr Clair im Urlaub ist, haben sie das Haus für sich. Maureen hat es längst aufgegeben, gemeinsame Mahlzeiten einzufordern, und stellt einfach Brot, Braten, Käse, Pasteten und Eintopf bereit, damit sie sich bedienen können, wann immer ihnen danach ist. Soweit Serge weiß, macht Sophie sich nur Frühstück, und selbst das scheint sie nicht aufzuessen: Jedes Mal, wenn er sie im Laufe der nächsten Tage im Labor aufsucht, sieht er Stapel belegter Brote nahezu unberührt neben noch fast vollen Gläsern mit Limonade stehen, auf denen sich zähflüssige Blasen wie im Schaum der Aphrophora spumaria bilden. Und an der Wand vermehren sich die Texte, Tabellen und Diagramme, breiten sich aus. So liest Serge etwa einen Bericht über die branchiae der Cercopidae, die offenbar »sehr fein, wie Fadenbündel aussehen und lamellenförmige Appendizes bilden«; außerdem studiert er die
Architektur der Nester der Vespa germanica, ihre unterirdischen Schächte und Gänge, die geräumigen Nesthüllen und alveolae …
    Sophie hat bizarrerweise damit angefangen, zwischen diese Texte und Bilder jene Schlagzeilen zu heften, die sie aus den Tageszeitungen herausgerissen hat. Irgendwie scheinen sich diese Exzerpte in ihrem seltsam assoziativen Netz verfangen zu haben: Sie enthalten ebenfalls farblich gekennzeichnete Worte und Buchstaben und wurden mit Worten und Buchstaben in Sophies wissenschaftlichen Texten verbunden, die, so nimmt Serge an, irgendwie in einem Zusammenhang damit stehen. Auf einem der Schnipsel liest er »Serbien unzufrieden mit Londoner Abkommen«, auf einem anderen »Tumulte im Pariser Ballett«, nur kann Serge keinen logischen Bezug zwischen diesen Ereignissen und Sophies Studien erkennen, obwohl Farben und Linien sie verbinden. Das Ganze wird überwölbt von riesigen Buchstaben, jeweils auf ein eigenes Blatt Papier geschrieben, mit Kreidefarbe hervorgehoben und untereinander mit Linien verbunden, die quer über die Wand zu anderen Termini oder Buchstabenfolgen in diesem ausufernden Geflecht führen. Zusammengenommen ergeben sie das Wort »Hymenoptera«.
    »Hymenoptera?«, liest Serge. »Was ist das? Klingt irgendwie unanständig.«
    »Keine Biene ohne Stachel«, lautet ihre etwas rätselhafte Antwort. »Die Gruppe hat eine gemeinsame Stammform, schließt aber nicht alle Nachkommen mit ein. Paraphyletisch: Alles hängt zusammen.« Sie betrachtet eine Weile ihr ausuferndes Schaubild, verliert sich zwischen Vektoren und Relais – bis sie mit einem leichten Kopfzucken registriert, dass er immer noch da ist, und ihm erneut sagt, dass er gehen soll.
    Drei oder vier Nächte, nachdem Serge die weiße Gestalt zum ersten Mal auf dem Maulbeerrasen gesehen hat, sieht er sie wieder. Diesmal kann er ihr Gesicht erkennen: Es ist
Sophie, ganz ohne Zweifel. Wie in

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