K
schaut, dessen Geflecht aus Linien und Vektoren seit diesem Nachmittag noch gewachsen und komplexer geworden ist: Sie würden es sich ansehen und gleich wissen, was die Buchstaben bedeuten, die Verbindungen, all die Assoziationen …
Er findet Sophie draußen im Mosaikgarten zwischen den Blumen. Sie geht von einer Stelle zur anderen, wieder zurück, dann vor auf eine dritte Stelle, eine vierte, als folge sie genauen Anweisungen. Sie verlässt den Weg, als er näher kommt, und beginnt, im Blumenbeet umherzuwandern, ihr Unterkörper von hohen Irisstängeln verdeckt, weshalb sie wie ein riesiger Grashüpfer aussieht.
»Was machst du da?«, fragt Serge.
Sie bedeutet ihm, still zu sein. Er tritt beim Näherkommen leise auf. Sie geht zwei Schritte vor, einen zurück, dann
einen zur Seite und hält inne, der ganze Körper angespannt. Sie scheint wieder auf etwas zu lauschen. Mit jeder Hand einen Irisstängel umfassend, sieht sie aus wie ein verankerter Funkmast.
»Warum wolltest du, dass ich herkomme?«, fragt er.
Sie schweigt eine Weile, dreht sich dann zu ihm um und sagt: »Ich möchte dir etwas erzählen.«
»Dann erzähl’s.«
Ihm kommt es vor, als bliebe sie eine Ewigkeit stumm stehen, doch gerade, als er verdrossen aufgeben und zurückgehen will, sagt sie: »Ich habe einen Liebhaber.«
Ein plötzliches Schwindelgefühl überwältigt ihn – als hätte sich der Weg, auf dem er steht, der Rasen und die Blumenbeete, in gläserne Flächen verwandelt, die den Blick in eine unterirdische Welt freigeben, von deren Existenz er bislang nichts geahnt hat, obwohl sie immer schon da war, direkt unter seinen Füßen: eine Art menschliche Wespennestwelt mit luftdurchfluteten Korridoren, Hallen und Brutkammern. Mehr, um seine Fassung wiederzuerlangen, als aus irgendeinem anderen Grund fragt er Sophie: »Wer ist es?«
»Er unterrichtet in… «, setzt sie an, bricht dann aber ab und sagt: »Er ist ein Geheimnis, alles ist ein Geheimnis. Aber er hat mich feinfühlig gemacht, hat mir was angetan. Und ich kann jetzt Dinge sehen, die …«
»Die was?«
»Dinge sehen. Was kommt. Wenn sich Leiber vereinen und wieder trennen, und noch mehr Leiber kommen, liegen überall Teile in Segmenten.«
»Was für Leiber? Wo?«, fragt Serge.
»In London, Istanbul, Belgrad, überall«, sagt sie. »Ein jedes hängt zusammen. Ich spüre es in mir drinnen. Sieh doch.«
Sie nimmt seine Hand und legt sie auf ihren Bauch. Durch den dünnen weißen Baumwollstoff fühlt ihre Haut sich weich
und geschmeidig an. Serge kann darunter ein Rumoren spüren. Sie fühlt es wohl auch, denn sie sagt: »Es ist nicht dasselbe wie Hunger.«
Er nimmt die Hand wieder fort. Er weiß, was Liebende treiben: Er hat Photos gesehen, in einer Zeitschrift, die er auf einer Parkbank in Lydium fand. Da kniete eine Frau auf einem Sofa vor zerknitterten Vorhängen, und neben ihr stand ein Mann auf einem Teppich und schob ihr mit einer Hand den Rock hoch, während er in der anderen seinen riesigen, fleischigen, aus dem Hosenschlitz aufragenden Mast hielt; die Frau sah darauf hinab und lächelte auf eine wilde, verschwörerische Art, als gehöre sie ebenfalls zu jener unterirdischen Welt, sei vertraut mit deren Zellen, deren alveolae, und könne von innen heraus auf die normale Welt schauen, spöttischen Blicks und unbeobachtet. Kniet Sophie auf Sofas vor zerknitterten Vorhängen? Hat sie dann diesen Blick im Gesicht? Im Moment sieht sie stur geradeaus, allerdings mit leerem Blick oder vielmehr mit einem Blick, der von woandersher gefüllt zu werden scheint.
Sie murmelt: »… wenn die Leiber… und noch mehr Leiber kommen, liegen überall Teile … ein Käfermassaker in Badsack, auf dem Juno-Archipel … im französischen Buc: Pegonde – Reuters …«
Sie sieht aus, als richte sie sich auf einen Sender aus – als sei sie selbst zum Empfänger geworden. Ist das möglich?, fragt sich Serge – wie Bodners Spaten, die Rohre im Haus? In Wireless World hat er von einem Mädchen in Amerika gelesen, das über ihre Zahnfüllung Signale von Versuchsstationen empfing – aber via Insekten und Schlagzeilen, via Blumen? Allein die Vorstellung ist lächerlich. Und doch scheint durch Sophies Körper eine Art Übertragung stattzufinden. Während er sie beobachtet, glänzen ihre Augen immer stärker und lassen so das eingesunkene Umfeld, die gratschattige Orbita, dunkler und noch höhlenartiger wirken.
»Du solltest lieber schlafen«, sagt Serge. »Warum gehen wir nicht zurück
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