Kabeljau und Kaviar
auszeichnet, ist sein fabelhaftes Personengedächtnis, dem auch nicht
die kleinste Einzelheit entgeht. Die Tolbathys planen eine zu ihrem eigenen
historischen Zug mit Salonwagen passende Einladung, zu der die Gäste stilgemäß
in Kostümen der Jahrhundertwende kommen sollen. Wenn die Familie auch schon
seit Generationen im Feinkostimport tätig ist, hat sie ihr Vermögen doch
ursprünglich mit Eisenbahnaktien erworben, und so hat sie für einen kleinen
Luxuszug auf ihrem riesigen Grundstück außerhalb Bostons eine eigene
Eisenbahnstrecke angelegt, die es nun zu nutzen gilt. Chesterton hat den
Detektivroman einmal »eine Komödie der Masken, nicht der Gesichter« genannt,
und genau das veranstalten die Tolbathys. Hat nun einer der Scrooges von den
Geselligen Kabeljauen eine wirkliche anti-weihnachtliche Untat im Sinn, für die
er eine Silberkette und einen skrupellos an der Teilnahme verhinderten Jeremy
Kelling braucht?
Max nimmt an der Party als »Jeremys
Neffe« teil — ein Ehrentitel, der ihm sofort den Zugang zu dieser exklusiven
Schicht eröffnet, die sich etwa den Kennedys bis heute verschließt. Und so wird
er Zeuge eines dreisten Aktes, eines rätselhaften Verbrechens, das sich vor
aller Augen vollzieht. Der plötzlich in festlichem Schwarz und mit der traditionellen
Kette seines Berufs auftauchende Sommelier, der Sekt und Kaviar mit feierlichem
Zeremoniell präsentiert, verschwindet ebenso plötzlich wieder; er gehörte weder
zum Party-Service noch zum Tolbathyschen Personal. Zugleich läßt eine
plötzliche Vollbremsung Gäste, Personal, Gläser, Flaschen und Essen wild
durcheinanderstürzen. Im Führerstand der Lokomotive liegt der offensichtlich
mit einem Karateschlag getötete Wouter Tolbathy, und der für die Vollbremsung
Verantwortliche ist verschwunden wie der Sommelier. Und damit nicht genug — bald
klagen alle Gäste, die vom Kaviar gegessen haben, über schwere Übelkeit und
müssen mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Der
Kaviar aber war der beste und feinste aus Tolbathys eigener Firma, und die
große Dose wurde vor den Augen der Gäste vom rätselhaften Sommelier geöffnet — der
im übrigen, was nur Max’ einschlägig geschultem Blick auffiel, die Ehrenkette
des Allerwertesten Fischkopfs trug, allerdings mit einem standesgemäßen
Korkenzieher anstelle des silbernen Kabeljaus. Das älteste Mitglied des
Geselligen Kabeljaus (ausgerechnet er war am Scrooge-Tag der Geist der
zukünftigen Weihnacht) stirbt an den Folgen des Sturzes und die Frau eines
weiteren Kameraden an der Vergiftung, die bei ihr mit einem ohnehin
eingenommenen Gichtmittel kumuliert. Der erschlagene Tolbathy, die vergiftete
Edith Ashborn, der verunglückte Wripp — drei höchst reale Leichen stören den
Weihnachtsfrieden in Bostons Oberschicht — und weitere Opfer schweben noch in
Lebensgefahr.
Dennoch ist man bereit, die Sache mit
Hilfe des in diesen Dingen erfahrenen örtlichen Polizeichefs unter den Teppich
zu kehren: Wouter Tolbathy starb bei einer — zugegeben rätselhaften — Vollbremsung,
desgleichen Wripp — und den Kaviar aus Tolbathys eigenem Import haben dann wohl
verrückte russische Kommunisten aus Haß auf amerikanische Kapitalisten
vergiftet. Tolbathy fürchtet zwar, daß er seinen gesamten Kaviar eventuell
zurückziehen und sein durch so viele Generationen hindurch erfolgreiches Geschäft
vielleicht schließen muß, aber das ist ihm lieber als ein Skandal auf seiner
eigenen Party.
Und so wäre der Fall dann nach einem
Viertel des Buchs abgeschlossen, wäre nicht Max Bittersohn von vornherein mit
der Sache befaßt gewesen. Wieder einmal ist es der Detektiv, der die
entscheidenden Fragen stellt und erst das zunächst undurchdringbar scheinende
Geheimnis entstehen läßt, wo Polizei und Betroffene sich mit harmlosen
Erklärungen zufrieden geben. Max sieht alle rätselhaften Vorkommnisse als
Einheit: das Verschwinden der Kette, den Anschlag auf Jeremy Kelling und den
doppelten Anschlag auf den Zug und seine Passagiere. Damit beginnt seine
einsame Jagd nach dem Täter. Wenn alle Ereignisse in einem großen Zusammenhang
stehen, kann der Mörder nur unter den Kameraden vom Geselligen Kabeljau zu
suchen sein, die auch einladungsgemäß verkleidet an der Tolbathy-Party
teilgenommen haben. Mit der Carte blanche »Jeremy Kellings Neffe« verschafft
Max sich Zutritt zu ihren Palästen, bahnhofsgroßen Geschmacklosigkeiten und
eleganten Stadtwohnungen, richtet des Onkels Grüße aus
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