Kabeljau und Kaviar
Mr.
Whet sagt, Mr. Jem sei der einzige Mann, dem er Mrs. Whet anvertraut, wenn er
unterwegs ist, weil Mr. Jem nie lange genug bei ein und derselben Frau bleibt,
um gefährlich zu werden. Aber das hätte ich vor Ihnen vielleicht lieber nicht
sagen sollen.«
»Warum nicht? Ich habe ihm schon viel
schlimmere Dinge mitten ins Gesicht gesagt. Jem Kelling redet viel, wenn der
Tag lang ist, wenn Sie meine ganz persönliche Meinung hören wollen.«
Max schaute auf seine Uhr. Fast eins.
Whet hätte also genügend Zeit gehabt, sich anzukleiden, aus dem Haus zu
schleichen und das zu tun, was zum Teufel er vorgehabt haben mochte,
rechtzeitig zurückzukommen und wieder ins Bett zu schlüpfen.
Das Hausmädchen mußte seinen Blick als
Aufforderung gedeutet haben. »Gut, ich sehe am besten mal nach, ob er schon
wach ist. Es ist sowieso schon höchste Zeit. Er wird bestimmt ärgerlich sein,
daß ich ihn noch nicht geweckt habe, wo doch Mrs. Whet so krank ist, und er
ahnt es nicht einmal. Es macht Ihnen doch nichts aus, Mr. Max, oder?«
Damit meinte sie offenbar die Rolle als
Überbringer schlechter Nachrichten, die sie ihm zugedacht hatte, was ihm
wiederum einen guten Grund für sein Hiersein verschaffte. So sagte er, nein, es
mache ihm nicht das geringste aus.
Sie entschuldigte sich weit
liebenswürdiger, als sie ihn empfangen hatte, ließ ihn sogar ganz allein in dem
Raum, der augenscheinlich das private Wohnzimmer der Whets war. Durch eine
offene Tür konnte er in ein weiteres, offizielleres Wohnzimmer sehen, das in
blassen Gelbtönen gehalten war und an diesem rauhen, verhangenen Dezembertag
sehr kühl wirkte. Die weißen Christsterne auf dem Kaminsims aus weißem Marmor
ließen den Raum nicht eben freundlicher wirken.
Doch in dem Zimmer, in dem er sich
befand, gab es leuchtendbunte Sofakissen und rote Christsterne, und der
Kaminsims war mit goldenen Kugeln und rotem Samtband dekoriert. Überall sah er
Fotografien in Silberrahmen, auf denen eine junge, ätherische Marcia als Braut
hinter einer Wolke aus Tüll zu erkennen war. Marcia mit einem Baby im Arm und
zwei kleinen Kindern, die sich an ihre Knie schmiegten. Marcia in einem langen
Kleid mit Ansteckbouquet neben ihrer Tochter im Brautkleid und mit einem großen
weißen Hut. Daneben der Gerry Whet von Jems Foto im Stresemann, an seiner Seite
offenbar sein Sohn, ein noch unfertiger zukünftiger Kabeljaubruder, der seinem
Vater aufs Haar glich, sowie ein weiterer junger Mann, der gleichzeitig
förmlich, glücklich und furchtbar aufgeregt aussah und höchstwahrscheinlich der
frischgebackene Schwiegersohn war.
Es gab auch aktuellere Fotos von Marcia
Whet, auf denen sie wirkte wie bei ihrer Begegnung mit Max, ein wenig mehr
Matrone zwar, aber immer noch sehr charmant, umgeben von einer offenbar stetig
wachsenden Zahl von jungen Menschen, Kindern und noch mehr Babys. Gerry Whet
war auf zahlreichen Bildern neben ihr zu sehen. Ein Familienvater, wie er im
Buche stand, konnte man meinen, zufrieden mit sich, mit seiner Gattin, seinen
Kindern und Enkelkindern und mit seinem Platz im Leben. Und dazu mochte man ihm
auch allen Grund zubilligen, angesichts dieser in Bildern eingefangenen
glücklichen Erinnerungen in diesem behaglichen Raum in diesem hübschen Haus in
dieser überaus vornehmen Wohngegend. Geldsorgen hatte er höchstwahrscheinlich
keine, wenn man bedachte, was es kostete, heutzutage in Boston einen Besitz
dieser Größe zu unterhalten.
Apropos Besitz. Das brachte Max auf
einen Gedanken. Wo war das Gewächshaus? Er dachte gerade über Whet und seinen
Eisenhut nach, als das Hausmädchen auf einem silbernen Tablett eine Karaffe
Sherry und einen Teller Plätzchen hereintrug.
»Mr. Whet sagt, er ist in ein paar
Minuten bei Ihnen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, so lange zu warten. Der
Kaffee ist auch gleich fertig, falls Sie lieber Kaffee möchten.«
»Sherry wäre wunderbar, vielen Dank.«
Heute schien man ihm überall einen
Drink anzubieten. Am besten, er nahm diesen an, bevor das Hausmädchen seine
Meinung ändern konnte, wie es eben Ashbrooms Miss Moriston getan hatte. Die
Karaffe, stellte er fest, war eine Waterford-Karaffe. Sarah hatte auch
Waterford-Karaffen benutzt, um ihre Pensionsgäste von dem billigen Sherry
abzulenken, den sie darin zu servieren pflegte. Davon konnte hier keine Rede
sein. Der Sherry war, wie alles bei den Whets, teuer und schmeckte vorzüglich.
Max war müde. Bis jetzt hatte er noch
gar nicht gemerkt, wie müde er war. Der ausgezeichnete
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