Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
Toten waren blutiggekratzt, augenscheinlich von den eigenen Fingernägeln. Ein verzweifelter Versuch sich zu befreien, aussichtslos gegen die groben Stricke, die blauschwarze Abdrücke auf den Gelenken hinterlassen hatten. Blut klebte unter den gesplitterten Nägeln, auf den Fingerkuppen, dem Holztisch, war die Hand herabgeflossen und hatte sich mit … Bernhard fiel es wie Schuppen von den Augen. Das wirre Muster roter Linien ergab Sinn. Man musste die übrigen Flecken ausblenden, die dunkle Maserung des Tisches ignorieren und sich auf Kopfhöhe des Opfers begeben.
Es waren Buchstaben.
Kitzbühel, Hotel Tiefenbrunner
Freitag, 5. Januar, 20:15 Uhr
Die
Morgenstimmung
aus Edvard Griegs Peer-Gynt-Suite durchflutete den Raum wie eine sanfte Meereswoge. Benjamin hob das Mobiltelefon an sein Ohr. „Guten Abend, Prinzessin“, sagte er.
„Ich grüße Euch, edler Prinz“, entgegnete Natascha.
Benjamin grinste breit. „Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?“
„Mir ist langweilig, was glaubst du denn?“
„Ich dachte, vielleicht ist es Interesse an meiner Person.“
„Ach wo. Was sollte an einem humorvollen, attraktiven und intelligenten Gentleman schon interessant sein?“
„Du hast das ‚selbstlos‘, ‚leidenschaftlich‘ und ‚steinreich‘ vergessen.“
„Wohl eher das ‚vorlaut‘.“ Natascha kicherte, und Benjamin konnte nicht anders, als es zu erwidern. Sie benahmen sich wie Teenager. Verliebte Teenager. Aber warum auch nicht?
„Willst du mir nicht irgendetwas erzählen?“, fragte Natascha.
„Was denn?“
„Wie wäre es mit einer romantischen Gutenachtgeschichte?“
Benjamin lächelte. „Ich bin nicht sicher, ob ich gut Geschichten erzählen kann.“
„Egal. Versuchen wir es. Ich werde dich nicht auslachen. Wahrscheinlich zumindest.“
„Hey!“ Benjamins Mundwinkel wanderten nach oben. „Willst du jetzt eine Geschichte hören oder nicht?“
„Ja, bitte, tut mir leid.“
„Okay. Also: Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte in …“
„Cool, ein Märchen!“
„Bist du wohl still!“ Benjamin grinste wie ein Lebkuchenpferd, sodass seine Worte nicht ganz die Strenge transportierten, die er ihnen zugedacht hatte.
„ ’tschuldigung“, murmelte Natascha in gespielter Demut. „Wird nicht wieder vorkommen.“
„Das will ich auch hoffen. Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte in einem fernen Land eine Prinzessin, die sich nichts sehnlicher wünschte, als von einem heldenhaften Prinzen …“
„Oh, wie romantisch“, stöhnte Natascha. „Erzähl mir mehr von ihm!“
Bayerischer Wald, Jagdhaus bei Arnbruck
Freitag, 5. Januar, 20:20 Uhr
„Tatsächlich.“ Anna legte die Stirn in Falten. „Es sind Buchstaben – und Zahlen. Das hier“, sie deutete auf das erste Zeichen links oberhalb des Handgelenks, „sieht wie ein ‚M‘ aus.“
„Und das daneben könnte ein ‚B‘ sein“, ergänzte Bernhard. „Dahinter dann ein ‚S‘ und bei der anderen Hand die Zahlen: eine Acht, eine Zwei, Null und … offenbar eine Sechs. Wie zwei Schriftzüge, die in einem Bogen um die Hände laufen.“
Sie schwiegen einen Moment. Schlussendlich sprach Anna aus, was sie beide dachten. „Jasmin muss eine unglaublich starke Frau gewesen sein.“
Es war seltsam, den Namen der Toten in den Mund zu nehmen, wenn man direkt neben ihr stand. Etwa so, als würde man in einer tief verschneiten Winterlandschaft die Schönheit blühender Rosen preisen.
Bernhard gab Anna im Stillen recht. Die Qualen, die die junge Frau durchlebt hatte, mussten das Menschenerträgliche um ein Vielfaches gesprengt haben. Dennoch hatte sie ihnen eine Botschaft hinterlassen. Dennoch war sie dazu imstande gewesen, ihren Peiniger zu überlisten.
Bernhard zog seinen Notizblock heraus und notierte:
MBS8206
. „Wonach sieht das für dich aus?“, fragte er seine Kollegin.
„Ein Autokennzeichen“, erwiderte sie.
„Würde ich auch sagen. Sofern wir die Buchstaben und Ziffern korrekt angeordnet haben. Es könnte sich um ‚M‘ für ‚München‘ oder ‚MB‘ für ‚Miesbach‘ handeln. Müsste sich aber über ZEVIS herausfinden lassen.“
„Das übernehme ich“, sagte Anna und ein feuriges Glimmen trat in ihre Augen. „Ich finde den Wagen, und wenn ich die Nacht durchmachen muss.“
„Gut“, erwiderte Bernhard und rieb sich die Stirn. Ein dumpfer Schmerz pulsierte hinter seinen Augen. Es ließ sich nicht leugnen, dass seine Leistungsfähigkeit in den vergangenen Jahren nachgelassen
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