Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
wild gelockten Haaren. Er hatte seine Augen geschlossen, die Hände über dem Bierbauch verschränkt. Seine abgewetzte Jacke war dunkelblau, er trug Winterstiefel und hatte weder Schiausrüstung noch Handschuhe oder Haube bei sich. Seinem entspannten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war ihm die Situation nicht minder gleichgültig. Oder aber er war schlicht eingeschlafen.
Die Frau und ihre vorlaute Tochter waren Emma schon beim Betreten der Gondel aufgefallen. Es war offensichtlich, dass die zaundürre Mutter ihren Nachwuchs nicht unter Kontrolle hatte. Emma spürte einen scharfen Stich in der Brust, als sie das kleine Mädchen betrachtete. Natürlich hätte sie einen anderen Erziehungsstil gewählt. Freilich wäre sie eine bessere Mutter gewesen. Selbstverständlich könnte sie die erforderlichen Grenzen von Selbstlosigkeit, Liebe, Erziehung und notwendiger Bestrafung korrekt einschätzen. Hätte, wäre, könnte. Aber sie hatte keine Kinder.
An der Tür stand ein Mann, vielleicht vierzig Jahre alt. Seine Gesichtszüge waren unscheinbar. Er hatte etwas von einer grauen Maus und wirkte eher genervt als nervös. Das Auffälligste an ihm waren seine voluminösen Lippen und der schwarzrote Schioverall, der ihn als Mitarbeiter der Kitzbüheler Seilbahnen auswies. Der Unbekannte hatte ein Mobiltelefon an sein Ohr gepresst, schien allerdings keine Verbindung zu erhalten. Emma lugte neben sich. Rüdiger plauderte mit einem eher klein gewachsenen, aber gut aussehenden Mann um die fünfzig. Dessen Augen erstrahlten in einem solch unnatürlichen Blau, dass sie zwei funkelnden Saphiren glichen. Emma war der Unbekannte auf Anhieb unsympathisch. Gerade lachte der Fremde aus vollem Hals. Rüdiger spielte sein humoristisches Talent aus.
Und Matteo … Matteo grinste unverschämt in ihre Richtung. Emma blinzelte halb überrascht, halb verärgert, streckte die Nase hoch und zog ihre Mundwinkel demonstrativ nach unten. Sie würde sich vor ihrem Mann keine Blöße geben!
„Na Gott sei Dank“, hob Matteo an, und seine Stimme war in flüssigen Sarkasmus getaucht, „sind wir nicht in Kabine dreizehn eingestiegen.“
Seilbahn GmbH Kitzbühel, Büro des Sicherheitschefs
Samstag, 6. Januar, 09:26 Uhr
„Er sagt, er ist die Stufen hinuntergefallen, als er nach dem Notantrieb sehen wollte.“ Nataschas Stimme klang blechern aus dem Mobiltelefon. Benjamin hatte die Lautsprecher eingeschaltet, damit auch Franz und Thomas ihr Gespräch mit anhören konnten.
„Wie geht es ihm?“, fragte Benjamin.
„Er hat eine großflächige Platzwunde am Kopf. Dürfte ohnmächtig gewesen sein. Mittlerweile ist er aber ansprechbar.“
Franz beugte sich vor und brüllte ins Mikrofon: „Was ist mit dem Notantrieb?“
Kurzes Schweigen.
„Springt nicht an“, konstatierte Natascha. „Kann momentan nicht sagen, woran es liegt. Jedenfalls nicht am Strom. Das Aggregat läuft einwandfrei, alle elektronischen Geräte funktionieren.“
„Was ist mit dem Reserveantrieb in der Talstation?“, warf Benjamin ein.
Ein Knacken in der Leitung; Nataschas Stimme war in einiger Entfernung zu vernehmen. „Werde … Funk …“
„Was hast du gesagt?“
Stille. Gerade als Benjamin begann sich Sorgen zu machen, war Nataschas Stimme wieder da; rauschfrei und in beachtlicher Lautstärke. „Habe die Talstation angefunkt“, sagte sie. „Ibrahim kann die Startautomatik des Notantriebs in der Bergstation nicht übergehen. Laut System soll der Antrieb hier oben laufen.“
„Manuell deaktivieren und umschalten“, sagte Benjamin. „Weißt du, wie das geht?“
„Moment … Gut, der Notantrieb ist aus. Zum Umschalten muss ich in den Technikraum, oder?“
„Genau. Wenn du hineinkommst, ist linker Hand ein Schaltkasten.“
„War das nicht der gelbe Knopf über dem FI-Schalter?“, erkundigte sich Natascha.
„Korrekt“, bestätigte Benjamin. „Den musst du drücken, dann sollte der Notantrieb in der Talstation anspringen.“
Ein Brummen erklang, tief und gleichmäßig.
„Es läuft“, sagte Natascha mit Erleichterung in der Stimme. „Die 3S-Bahn fährt wieder.“
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Samstag, 6. Januar, 09:29 Uhr
Endlich!
Doris atmete erleichtert auf. Sie wusste nicht, wie lange sie Samantha noch hätte stillhalten können.
„Wir fahren schon wieder, mein Engel, siehst du?“
Samantha wirkte wenig beeindruckt, stellte aber ihr Gejammer ein und ließ sich mit verschränkten Armen auf ihren Sitz fallen. „Wie lange dauert’s
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