Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
noch?“, murrte sie, nahm ihren Helm ab und warf ihn achtlos neben sich.
„Nur noch ein paar Minuten. Schau mal, die Gondel vor uns. Dort sind Papa und deine Brüder.“
„Hm.“
„Willst du zu Mittag einen Kaiserschmarrn? Oben am Berg ist ein tolles Restaurant.“
„Ich will jetzt Zuckerschlangen“, sagte Samantha. „Und ich muss aufs Klo.“
„Gleich, mein Häschen, gleich.“ Doris ging vor ihrer Tochter in die Hocke und warf ihr einen flehentlichen Blick zu. „Du weißt, dass dich Mama lieb hat, oder? Aber ich kann nicht zaubern, verstehst du? Wir müssen warten, bis wir oben am Berg sind, dann werde ich dir Süßigkeiten kaufen und …“
„ICH MUSS PI-PI!“, brüllte Samantha.
Seilbahn GmbH Kitzbühel, Büro des Sicherheitschefs
Samstag, 6. Januar, 09:29 Uhr
„Die schwarze Wolkenwand ist fast da“, sagte Natascha. „Ich schätze, uns bleiben weniger als zehn Minuten.“
„Könntest du abklären, wie viele Gondeln mit Passagieren noch auf der Strecke sind?“
„Ja, Sekunde.“ Nataschas Stimme verklang. Das eintönige Rauschen der Lautsprecher verschluckte ihr Funkgespräch mit der Talstation.
„Der Reserveantrieb schafft nur das halbe Tempo“, sagte Franz. „Aus neun Minuten werden achtzehn.“
„Im Moment des Stromausfalls muss die letzte besetzte Gondel auf Höhe der Stütze gewesen sein.“ Benjamin gab sich betont zuversichtlich. „In spätestens fünf Minuten sind die letzten Passagiere oben.“
„Die Fahrgäste sind das eine Problem“, meinte Franz. „Die Gondeln das andere. Wenn wir es nicht schaffen, alle Kabinen vor dem Sturm hereinzuholen, könnten sie beschädigt werden. Ich brauche dir wohl nicht zu erklären, dass dies einem finanziellen Desaster gleichkäme.“
Benjamin senkte den Blick. Nein, das brauchte der Betriebsleiter fürwahr nicht zu tun. Er erwähnte äußerst selten, dass die Firma – in seinen Augen – immerzu am Rande des Bankrotts stand. Höchstens dreimal pro Tag.
Ein Surren in der Mobilfunkleitung, dann war Nataschas Stimme zu vernehmen. „Es sind noch neun Kabinen“, sagte sie. „Alle bergwärts unterwegs.“
Benjamins Gesichtszüge erschlafften. Das bedeutete rund fünfzehn Minuten, bis die letzte Gondel in der Bergstation eintraf.
„In Nummer vierzehn sind die letzten Passagiere“, fuhr Natascha fort. „Es dürfte knapp werden.“
„Was wäre, wenn es sich nicht ausgeht?“ Die Stimme des Betriebschefs war ruhig, gleichzeitig lag ein unterschwelliges Grollen darin. „Womit müssen wir rechnen?“
Benjamin rieb sich die Schläfen. „Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Unter anderem der Windgeschwindigkeit. Ich weiß, dass die Gondeln der 3S-Bahn bis einhundertzwanzig Stundenkilometer getestet wurden. Leider bin ich kein Experte auf dem Gebiet.“
„Dann solltest du es werden“, sagte Franz. „Und zwar innerhalb der nächsten fünf Minuten.“
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Samstag, 6. Januar, 09:30 Uhr
„Darf ich euch jemanden vorstellen?“
Rüdiger rutschte auf Emma und Matteo zu und deutete auf den stämmigen, attraktiven Mann, mit dem er sich zuvor unterhalten hatte. Emmas erste Einschätzung veränderte sich auch durch ihre zweite Musterung nicht. Die Nähe des Unbekannten war ihr definitiv unangenehm.
„Das ist Martin, ein evangelischer Pastor aus – wie heißt der Ort noch gleich?“
„Rüti“, sagte der Mann, und seine indigoblauen Augen blitzten in Emmas Richtung wie zwei hungrige Suchscheinwerfer. „Eine Kleinstadt nicht weit von Zürich.“
„Pastor?“, echote Emma.
„Ja“, bestätigte Rüdiger. „Das Unglaubliche ist: Er war einer meiner Studenten an der Universität in Innsbruck.“
„Du hast doch gar nicht Theologie unterrichtet“, warf Matteo ein und linste über den Rand seiner Brille zu dem Geistlichen hinüber.
„Stimmt. Aber Chemie.“
„Was hat Chemie mit Theologie zu tun?“
„Wenig“, schaltete sich Martin ein und lächelte, wobei er eine Reihe perfekter, strahlend weißer Zähne offenbarte. „Aber zu Beginn wollte ich Pharmazeut werden.“
Seine Stimme war ruhig und samtig weich. Sie erinnerte an das zufriedene Schnurren eines Tigers, bloß ohne dem Schnurren. Der Klang wirkte beruhigend und einlullend – zweifellos gute Voraussetzungen für eine Tätigkeit als Geistlicher. Dennoch blieb Emma skeptisch. Dieser Pastor hatte etwas an sich, das sie abschreckte. Was es allerdings war, konnte sie nicht sagen. Vielleicht lag es auch nur an seinen unnatürlich
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