Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
Schischuhen auf dem Sitz und hielt die darüber befindliche Haltestange umklammert. Sie hopste auf und nieder, sang lautstark immer dasselbe Lied aus einer Zeichentrickserie und ignorierte ihre Mutter völlig.
Doris entgingen die unangenehm berührten, teilweise sogar feindseligen Blicke der übrigen Fahrgäste nicht. Himmel, sie war doch keine schlechte Mutter! Sie liebte ihre Tochter über alles, war das ein Verbrechen? In ihren Augenwinkeln sammelten sich heiße Tränen. Doris wandte sich Richtung Fenster. Mit einem Mal hatte sie Hunger. Gewaltigen Appetit auf Wiener Schnitzel mit Pommes, eine saftige Sachertorte mit Schlagobers oder auch einen würzigen Schweinsbraten mit Semmelknödel. Am besten alles zusammen. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen.
Doris registrierte die unerwartete Stille und wandte sich ihrer Tochter zu. Samantha stand regungslos auf ihrem Sitz und hatte den Kopf schief gelegt. Sie betrachtete den fernen Berggipfel, auf den sich die Gondel zubewegte.
„Alles in Ordnung, mein Engel?“, erkundigte sich Doris.
„Schau mal, Mama“, sagte Samantha und deutete in den Himmel empor. „Ein Wolkendrache!“
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Bergstation
Samstag, 6. Januar, 09:34 Uhr
„Natascha?“
Die Blondine zuckte zusammen. Franz’ Stimme dröhnte aus dem Funkgerät wie das Gebrüll eines Löwen.
„Ja?“, erwiderte sie.
„Hör mal“, sagte er im Plauderton. „Ich teile Benjamins Einschätzung nicht. Wenn wir die Gondeln dem Sturm aussetzen, gehe ich von gravierenden Schäden aus. Dies könnte uns finanziell in die Bredouille bringen. Wir müssen den Notantrieb so lange weiterlaufen lassen, bis sämtliche Kabinen in der Garage sind. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Natascha schluckte. „Ja. Klar und deutlich.“
„Gut.“ Franz’ Grinsen schien sich auf der Oberfläche des Funkgeräts zu manifestieren. „Du bist eine gute Mitarbeiterin. Ich verlasse mich auf dich.“
Natascha ließ sich auf einen Stuhl sinken. Zum Teufel, was sollte sie tun? Auf Benjamins Meinung und ihr Gefühl vertrauen und die Notabschaltung betätigen, sobald der Sturm Orkanstärke erreichte? Oder sollte sie Franz’ Befehl Folge leisten und den Betrieb in jedem Fall aufrechterhalten?
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Die heranbrausende Wolkenwand erhob sich wie ein finsterer Rammbock aus Schwärze. Sie hätte genauso gut der weit geöffnete Rachen einer apokalyptischen Bestie sein können. Natascha erschauderte. So oder so, sie war fest davon überzeugt, dass sie die falsche Entscheidung treffen würde.
Schiregion Kitzbühel, Bergrestaurant Pengelstein
Samstag, 6. Januar, 09:35 Uhr
Die Böenfront näherte sich mit sagenhafter Geschwindigkeit. Gerade war über die Lautsprecher eine Sturmwarnung ausgegeben worden. Leider zu spät. Sie würden es nicht schaffen. Hans schwitzte wie im Hochsommer. Ein paar Schirme, zwei Tische und eine Bank waren noch übrig, dann hatten sie es geschafft.
Eine orkanartige Sturmböe erfasste ihn, schmetterte ihn gegen die Hauswand und presste ihm die Luft aus den Lungen. Joseph hatte nicht so viel Glück. Der Sturm packte ihn mitten im Schritt, schleuderte ihn auf das Geländer zu – mit einem Aufschrei verschwand er in der Tiefe.
Hans tastete sich Richtung Tür. Scharfkantiger Sand, vermischt mit schmerzhaft brennenden Eiskörnern, prasselte auf seine Haut. Er ergriff die Schnalle, riss das Tor auf und taumelte nach drinnen. Niemals zuvor hatte er einen solchen Sturm erlebt. Nach Atem ringend, stützte er sich auf seine Oberschenkel und wandte sich um. Von Joseph war keine Spur zu entdecken.
Der Orkan legte weiter an Stärke zu. Die Fenster des Restaurants klapperten, als müssten sie jeden Moment zerbersten. Instinktiv duckte sich Hans hinter einen der massiven Holztische. Das monumentale Dröhnen, das von draußen durch die Tür drang, schwoll an wie ein Düsentriebwerk und übertönte jeden weiteren Laut. Falls Gott jemals einen Weltuntergang vorgesehen hatte, dann musste er so beginnen.
Hans warf einen Blick nach Osten. Dorthin, wo der letzte Rest an Sonnenlicht von der eintreffenden Sturmfront verschluckt wurde.
Er kniff die Augen zusammen. Etwas irritierte ihn. Erst nach einigen Sekunden realisierte er, was er vor sich sah: Eine Anzahl grüner Tupfen am Himmel, die vom Orkan getragen in den Saukasergraben hinabsegelten. Es waren die restlichen Sonnenschirme von der Terrasse.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Bergstation
Samstag, 6. Januar, 09:36
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