Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
durchtrennen?
Nein, das hielt er für ausgeschlossen. Außerdem wären sie in diesem Fall längst am felsigen Untergrund zerschellt. Aber weshalb dann der unerfreuliche Halt? Der Ruck war viel heftiger gewesen als beim ersten Mal. Beinahe so, als würde jemand oder etwas die Seile blockieren.
Raphael spürte, wie seine Handflächen feucht wurden.
*
„Ich habe Angst“, sagte Samantha und drückte ihr Gesicht gegen den Hals ihrer Mutter.
Doris strich ihrer Tochter über das Haar. „Alles wird gut“, flüsterte sie. „Du wirst schon sehen. Es ist nichts passiert. Wir müssen nur ein bisschen warten. Die Leute von der Seilbahn kümmern sich darum. Die haben das in Nullkommanichts repariert.“
Doris war erstaunlich ruhig. Zu ruhig. Ob dies ein Zeichen bevorstehender Panik war? Andererseits hatte sie in der Vergangenheit öfters erlebt, dass sie unter Stress und im Angesicht drohender Gefahr gelassen blieb.
Ihr Magen rumorte. Wie üblich hatte sie am Morgen nichts gegessen. Genauso wenig wie gestern Abend. Für heute hatte sie bloß einen Apfel eingepackt. Sie sollte sich wahrhaftig einen Schweinsbraten oder ein Wiener Schnitzel gönnen, wenn diese Höllenfahrt zu Ende war. Oder wenigstens einen Kaiserschmarrn.
Das Wichtigste ist, dass es Samantha gutgeht
. Vorsorglich hatte Doris ein paar Süßigkeiten in ihren Rucksack gepackt, ihrer Tochter aber nichts davon erzählt. Wie es schien, würde sich diese Weitsicht nun bezahlt machen.
Du bist eben doch eine gute Mutter
, dachte Doris und lächelte.
Seilbahn GmbH Kitzbühel, Besprechungsraum
Samstag, 6. Januar, 09:39 Uhr
„Die Seilbahn hat angehalten!“, schrie Natascha über Funk – schrie, weil im Hintergrund ein fulminantes Donnern und Kreischen zu vernehmen war.
„Ich habe dir gesagt, du sollst die Anlage laufen lassen“, erboste sich Franz. „Jetzt können wir nur hoffen …“
„Ich war das nicht“, fauchte Natascha. „Der Notantrieb in der Talstation ist ausgefallen. Habe Ibrahim angefunkt. Er meinte, der Antrieb hat sich selbstständig ausgeschaltet, wahrscheinlich wegen einer Blockierung des Zugseils.“
Franz schwieg. Wenn Nataschas Aussage der Wahrheit entsprach, standen sie vor einem ernsten Problem.
„Wie viele Kabinen fehlen?“
„Es dürften sechs sein. Nur die letzte ist nicht besetzt. Kabine neun ist wenige Augenblicke vor dem Stillstand in die Station eingefahren.“
„Welche Windgeschwindigkeiten habt ihr oben am Berg?“
„Bei einhundertachtzig ist das Anemometer ausgefallen.“
Franz stöhnte und barg sein Gesicht in den Händen. Er spürte, wie seine Finger zitterten. Trotz der Medikamente heute Morgen. Einmal mehr war es der Stress, der die Symptome verstärkte.
„Dann bleibt uns nichts anderes übrig“, sagte Franz, und seine Stimme verriet ungewohnte Erschöpfung. „Wir müssen Bergrettung und Alpinpolizei verständigen.“
Bundesstraße zwischen Kitzbühel und Jochberg
Samstag, 6. Januar, 09:39 Uhr
Benjamin biss die Zähne zusammen. Die ersten Sturmböen schüttelten seinen Wagen wie räudige Hunde eine Stoffpuppe. Er schaltete die Scheinwerfer ein, als sich das Tageslicht halbierte. Ein Donner erklang, gefolgt von einem zweiten; in Benjamins Ohren klang es mehr nach dem Gelächter eines Dämons. Gleichzeitig setzte ein Gemisch aus Regen und Hagel ein, das die Straße mit einem glitschigen Film überzog. Etwa zweihundert Meter entfernt sah Benjamin rote Flecken von einem Hausdach aufsteigen. Er hatte die ungemütliche Ahnung, dass es sich hierbei um Dachziegel handelte.
Im Schritttempo passierte er das Ortsschild von Jochberg. Er wich einer Mülltonne aus, einer Plastikplane zweifelhafter Herkunft, mehreren abgerissenen Ästen sowie einem Kinderwagen – der glücklicherweise leer war. Nach schier endlosen Minuten erreichte er die Wagstätt-Sesselbahn. Er sprang aus dem Wagen und wurde von einer heftigen Böe beinahe zu Boden gerissen. Immerhin war kein Hagel mehr im Regen.
Im Laufschritt näherte er sich der Liftstation. Auf halbem Weg kam ihm eine vermummte Gestalt entgegen.
„Herr Lehnwieser?“, brüllte der Fremde gegen den Sturm.
„Ja“, schrie Benjamin und streckte die Hand aus. „Die Schlüssel!“ Er hatte keine Zeit für Erklärungen.
Der Bedienstete drückte ihm schweigend das Gewünschte in die Hand und deutete auf einen Motorschlitten, der einige Schritte entfernt neben dem Stationsgebäude stand. Benjamin ging darauf zu und kramte nach seinem Mobiltelefon.
„Wie sieht’s aus?“,
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