Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
09:37 Uhr
Ferdinand besaß ein ausgezeichnetes Gehör. Er nahm das Geräusch wahr, Sekundenbruchteile bevor der Blitz einschlug. Der Laut erinnerte an Aluminiumfolie, die man zusammenknüllt. Das Knistern war scharf und metallen. Es rief ein ähnlich unangenehmes Körpergefühl hervor, wie Fingernägel auf einer Kreidetafel.
Die Entladung selbst war nur ein kurzes Zucken, wie ein aufflammendes und sofort wieder erlöschendes Blitzlicht. Hingegen sprengte der zeitgleiche Knall jede Vorstellungskraft. Die Kabine vibrierte, als wäre sie einem hochenergetischen Stromstoß ausgesetzt. Sie bremste so abrupt, dass zwei oder drei Fahrgäste zu Boden stürzten. Ein abgestelltes Paar Schi bohrte sich in die Sitzverkleidung, nur Zentimeter neben dem Gesicht eines anderen Passagiers. Funken sprühten, der Geruch nach verschmortem Kunststoff erfüllte die Luft.
Die Insassen der Gondel erbleichten. Für einen Augenblick wagte niemand einen Laut. Irgendjemand stieß einen unterdrückten Schrei aus. Ein kleines Mädchen fing an zu weinen.
Ein zweiter Knall, bei Weitem nicht mit dem ersten vergleichbar, aber ob der allgemeinen Anspannung umso lähmender. Ein langes, grünes Ding fegte am Fenster vorbei – Ferdinand hatte den grotesken Eindruck, dass es sich um den Sonnenschirm aus einem Gastgarten handelte.
Moritz und Samuel drückten sich an ihren Vater. Sie zitterten vor Angst. Ferdinands Züge hatten sich in ein wirres Mosaik aus grauen und rosafarbenen Flecken verwandelt. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
„Mama?“, hauchte Moritz und blickte zu seinem Vater auf.
„Es geht ihr gut“, erwiderte Ferdinand mechanisch. Er umklammerte die Haltestange mit solcher Kraft, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
„Alles wird gut.“
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Samstag, 6. Januar, 09:37 Uhr
Der gleißende Lichtblitz war heller als die Sonne. Emma schloss geblendet die Augen, öffnete den Mund für einen erschrockenen Ausruf – als ein gewaltiger Donnerschlag jeden Laut erstickte. Funken sprühten aus der Decke der Gondel. Ein durchdringendes Quietschen erscholl, die Kabine verhielt ruckartig. Emma wäre von ihrem Sitz geschleudert worden, wenn Rüdiger nicht geistesgegenwärtig zugegriffen und sie zurückgehalten hätte. Matteos Schi knallten gegen ihren Helm; ein Glück, dass sie den Kopfschutz nicht abgenommen hatte.
Mit dem Blitzeinschlag legte auch der Wind zu. Heftige Böen rüttelten an der Gondel, die gleich einem störrischen Pferd bockte und von links nach rechts schwankte wie ein Betrunkener.
Emmas Blick fiel auf den Rothaarigen, der bislang sämtlichen Vorkommnissen mit stoischer Ruhe und geschlossenen Augen begegnet war. Nun saß er aufrecht, kerzengerade und gespannt wie eine Feder. Seine kleinen, trüb glänzenden Augen zuckten umher, verunsichert, aber auch lauernd. Als sein Blick dem Emmas begegnete, sah sie hastig zu Boden. Auch dieser Fahrgast war ihr nicht geheuer. Im Gegensatz zu dem Gefühl undefinierbaren Unwohlseins in der Nähe des Pastors, empfand sie gegenüber dem Rothaarigen jedoch anders. Sie hatte Angst vor ihm.
*
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Raphael besorgt und half seiner Freundin auf den Sitz zurück.
„Ja“, entgegnete Sonja, nahm ihre Mütze ab und rieb sich die Stirn. „Könnte eine Beule geben, aber ich denke, ich werde es überleben.“ Sie lächelte schwach. Sonja war durch den plötzlichen Ruck auf die Seite gekippt und mit dem Schädel gegen die Haltestange geprallt. Augenscheinlich war die Verletzung aber nicht weiter tragisch.
Der Zwischenfall riss Raphael aus seinen trübsinnigen Gedanken. Sonjas Aussage, wonach sie nicht heiraten wollte, hatte alles über den Haufen geworfen. Raphaels romantische Vorstellung von seinem Antrag war verpufft. Sonjas geschluchztes „Ja!“ würde niemals stattfinden, das geplante Candle-Light-Dinner für heute Abend musste er absagen. Schlimmer konnte es nicht kommen.
Hatte er zumindest gedacht; nun waren sie in Lebensgefahr oder wenigstens in einer prekären Situation. Ein Blick aus dem Fenster gab Raphael die Gewissheit, dass sich die Gondel nicht von der Stelle rührte. Er glaubte, dass der Blitz in die Seilbahnstütze eingeschlagen war. Momentan befanden sie sich rund dreihundert Meter von der metallenen Konstruktion entfernt. Der Abstand ihrer Kabine zum Erdboden betrug sicherlich keine vierhundert Meter mehr, aber er war immer noch zu groß.
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